Die zukünftige Direktorin des Mönchehaus Museum in Goslar Miriam Bettin erzählt von ihrem Verständnis von Kunst, ihrer Begeisterung für Vaginal Davis und dem Wunsch, Geschichten Raum zu geben
ShareEine Künstlerin, die mich früh und nachhaltig beeindruckt hat, ist die US-amerikanische Queercore-Ikone Vaginal Davis. Ihre radikale, kollaborative Praxis verbindet Performance, Punk, Zines, Gossip und Glamour und macht sie zu einer wichtigen Stimme Schwarzer Gegenkultur. 2013 hatte ich das Glück, im Rahmen einer Retrospektive zu Hélio Oiticica am MMK Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main mit ihr zusammenzuarbeiten. Ich freue mich sehr, dass ihr vielschichtiges Werk aktuell mit einer institutionellen Ausstellung im Gropius Bau in ihrer Wahlheimat Berlin gewürdigt wird. Prägend für mich waren auch die ersten Begegnungen mit dem Werk von Katharina Sieverding im Jahr 2004 im Mönchehaus Museum in Goslar. Bis heute fasziniert mich ihr politisches Verständnis des Selbstportraits – ein Spiegel gesellschaftlicher Identitäten und Machtverhältnisse.
Wenn ich mich auf ein einziges Werk festlegen müsste, wäre es ein gänzlich Immaterielles: die Soundarbeit „‘Til I Get It Right“ von Ceal Floyer, der ich 2012 auf der dOCUMENTA (13) begegnete, die mich berührte und seitdem begleitet. Floyer reduziert darin den Refrain von Tammy Wynettes Liebeslied auf „I’ll just keep on… ’til I get it right“ und spielt ihn als sich wiederholende Schleife, wie eine festhängende Platte, ab. Für mich ist es eine eindringliche und zeitlose Meditation über Angst, Scheitern, Beharrlichkeit – und Hoffnung.
Ich denke da an eine eher junge Vergangenheit: Die kürzlich verstorbene Kaiserringträgerin Rebecca Horn, die mit einer permanenten Rauminstallation im Mönchehaus Museum vertreten ist, hätte ich gern noch persönlich kennengelernt. Umso dankbarer bin ich, dass ich den Künstler und Filmemacher David Lynch 2010 in Goslar treffen durfte – ein sehr besonderer Moment, den ich damals mit meiner Spiegelreflexkamera festhielt; ein Selfie aus der Zeit vor dem Smartphone. Viel zu früh die Welt verlassen haben zwei Künstler, die sich auf ganz eigensinnige Art mit dem fotografischen Selbstbild auseinandergesetzt haben: Jürgen Baldiga (1959–1993) und Juan Pablo Echeverri (1978–2022) schufen genderfluide Portraits, die das queere Leben ihrer jeweiligen Zeit dokumentierten und inszenierten. Ihre Werke präsentierten wir letztes Jahr im Rahmen der Ausstellung „Grow It, Show It!“ im Museum Folkwang in Essen. Ich hätte die beiden gern auf ein Bier in Berlin getroffen.
Im Anschluss an meine zweite Recherchereise nach Lagos, anlässlich der Biennale im vergangenen Jahr, vertiefte ich mich in das 2022 erschienene Fotobuch „Last Day in Lagos“. Es ist ein eindrucksvolles Bilddokument von Festac ’77, dem bislang größten panafrikanischen Zusammenkommen, das die Vielfalt afrikanischer und diasporischer Kultur und Identität feierte. Eine Freundin hatte mir das Buch aus den USA mitgebracht. Kurz darauf kam es zu einem wunderbar überraschenden Online-Austausch mit der in New York lebenden Künstlerin Marilyn Nance, der Fotografin des Buches. Ich freue mich darauf, bei nächster Gelegenheit daran anzuknüpfen und mit ihr über die Bedeutung von Archiven und erzählerische Handlungsmacht zu sprechen.
Im Kunstverein Nürnberg zeigt meine Kollegin Nele Kaczmarek aktuell das Künstler*innenkollektiv Black Quantum Futurism, das in afrofuturistischen Überlegungen lineare Zeit in Frage stellt. Alle, die diesen Sommer noch eine Reise nach Venedig planen, sollten unbedingt in den Arsenalen Halt machen: Dort ist die Videoinstallation „Alternative Urbanism: The Self-Organised Markets of Lagos von Tosin Oshinowo“ zu sehen. Die Arbeit bietet eine kritische Reflexion über neokapitalistische Gegenmodelle und urbane Innovationen und wurde mit einer lobenden Erwähnung der Internationalen Jury auf der 19. Architekturbiennale in Venedig ausgezeichnet. Aktuell lohnt sich auch ein Abstecher ins Ruhrgebiet: Nach einer Station in der Serpentine in London widmet die Kunsthalle Recklinghausen der feministischen Künstlerin Judy Chicago eine umfassende Überblicksschau.