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9 Fragen an Miriam Bettin

Die zukünftige Direktorin des Mönchehaus Museum in Goslar Miriam Bettin erzählt von ihrem Verständnis von Kunst, ihrer Begeisterung für Vaginal Davis und dem Wunsch, Geschichten Raum zu geben

Von Simone Sondermann
04.06.2025

Wer ist Ihre Lieblingskünstlerin oder Ihr Lieblingskünstler?

Eine Künstlerin, die mich früh und nachhaltig beeindruckt hat, ist die US-amerikanische Queercore-Ikone Vaginal Davis. Ihre radikale, kollaborative Praxis verbindet Performance, Punk, Zines, Gossip und Glamour und macht sie zu einer wichtigen Stimme Schwarzer Gegenkultur. 2013 hatte ich das Glück, im Rahmen einer Retrospektive zu Hélio Oiticica am MMK Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main mit ihr zusammenzuarbeiten. Ich freue mich sehr, dass ihr vielschichtiges Werk aktuell mit einer institutionellen Ausstellung im Gropius Bau in ihrer Wahlheimat Berlin gewürdigt wird. Prägend für mich waren auch die ersten Begegnungen mit dem Werk von Katharina Sieverding im Jahr 2004 im Mönchehaus Museum in Goslar. Bis heute fasziniert mich ihr politisches Verständnis des Selbstportraits – ein Spiegel gesellschaftlicher Identitäten und Machtverhältnisse.

Welches ist Ihr Lieblingswerk?

Wenn ich mich auf ein einziges Werk festlegen müsste, wäre es ein gänzlich Immaterielles: die Soundarbeit „‘Til I Get It Right“ von Ceal Floyer, der ich 2012 auf der dOCUMENTA (13) begegnete, die mich berührte und seitdem begleitet. Floyer reduziert darin den Refrain von Tammy Wynettes Liebeslied auf „I’ll just keep on… ’til I get it right“ und spielt ihn als sich wiederholende Schleife, wie eine festhängende Platte, ab. Für mich ist es eine eindringliche und zeitlose Meditation über Angst, Scheitern, Beharrlichkeit – und Hoffnung.

Welcher Künstlerin oder welchem Künstler der Vergangenheit wären Sie gern mal begegnet?

Ich denke da an eine eher junge Vergangenheit: Die kürzlich verstorbene Kaiserringträgerin Rebecca Horn, die mit einer permanenten Rauminstallation im Mönchehaus Museum vertreten ist, hätte ich gern noch persönlich kennengelernt. Umso dankbarer bin ich, dass ich den Künstler und Filmemacher David Lynch 2010 in Goslar treffen durfte – ein sehr besonderer Moment, den ich damals mit meiner Spiegelreflexkamera festhielt; ein Selfie aus der Zeit vor dem Smartphone. Viel zu früh die Welt verlassen haben zwei Künstler, die sich auf ganz eigensinnige Art mit dem fotografischen Selbstbild auseinandergesetzt haben: Jürgen Baldiga (1959–1993) und Juan Pablo Echeverri (1978–2022) schufen genderfluide Portraits, die das queere Leben ihrer jeweiligen Zeit dokumentierten und inszenierten. Ihre Werke präsentierten wir letztes Jahr im Rahmen der Ausstellung „Grow It, Show It!“ im Museum Folkwang in Essen. Ich hätte die beiden gern auf ein Bier in Berlin getroffen.

Welche Künstlerin oder welchen Künstler der Gegenwart würden Sie gerne treffen?

Im Anschluss an meine zweite Recherchereise nach Lagos, anlässlich der Biennale im vergangenen Jahr, vertiefte ich mich in das 2022 erschienene Fotobuch „Last Day in Lagos“. Es ist ein eindrucksvolles Bilddokument von Festac ’77, dem bislang größten panafrikanischen Zusammenkommen, das die Vielfalt afrikanischer und diasporischer Kultur und Identität feierte. Eine Freundin hatte mir das Buch aus den USA mitgebracht. Kurz darauf kam es zu einem wunderbar überraschenden Online-Austausch mit der in New York lebenden Künstlerin Marilyn Nance, der Fotografin des Buches. Ich freue mich darauf, bei nächster Gelegenheit daran anzuknüpfen und mit ihr über die Bedeutung von Archiven und erzählerische Handlungsmacht zu sprechen.

Welche aktuelle Ausstellung können Sie empfehlen?

Im Kunstverein Nürnberg zeigt meine Kollegin Nele Kaczmarek aktuell das Künstler*innenkollektiv Black Quantum Futurism, das in afrofuturistischen Überlegungen lineare Zeit in Frage stellt. Alle, die diesen Sommer noch eine Reise nach Venedig planen, sollten unbedingt in den Arsenalen Halt machen: Dort ist die Videoinstallation „Alternative Urbanism: The Self-Organised Markets of Lagos von Tosin Oshinowo“ zu sehen. Die Arbeit bietet eine kritische Reflexion über neokapitalistische Gegenmodelle und urbane Innovationen und wurde mit einer lobenden Erwähnung der Internationalen Jury auf der 19. Architekturbiennale in Venedig ausgezeichnet. Aktuell lohnt sich auch ein Abstecher ins Ruhrgebiet: Nach einer Station in der Serpentine in London widmet die Kunsthalle Recklinghausen der feministischen Künstlerin Judy Chicago eine umfassende Überblicksschau.

Sammeln Sie? Wenn ja, was?

Sammeln bedeutet für mich Verbindungen zu knüpfen und Erinnerungen festzuhalten. Das Sammeln von Objekten – seien es Bücher, Poster oder Editionen – entspringt meinem seit jeher bestehenden Interesse am Bewahren, Vermitteln und Erzählen von Geschichten. Kunst ist eine Einladung, neue Perspektiven einzunehmen und Impulse für inklusive Formen des Zusammenlebens zu setzen – ein Anliegen, das in Zeiten globaler Umbrüche und Krisen an Dringlichkeit gewinnt. Diesen emotionalen Verbindungen folgend, umgebe ich mich mit Werken von Künstler*innen, mit denen ich zusammengearbeitet habe oder die mich auf meinem Weg begleitet und inspiriert haben.

Welches Kunstwerk haben Sie sich zuletzt gekauft?

Besonders gefreut habe ich mich zuletzt über eine Edition von Yinka Shonibare, Mitbegründer der G.A.S. Foundation in Lagos, Nigeria, an der ich 2022 im Rahmen eines Recherchestipendiums zu Gast war. Die Zeit vor Ort war von intensivem Dialog, fortwährendem Lernen und einem nachhaltigen Austausch geprägt – ein Raum, in dem persönliche Beziehungen gewachsen sind, die mein kuratorisches Denken und Handeln bis heute nachhaltig beeinflussen. Ein ganz besonders tolles Fundstück aus dem Mönchehaus Museum ist das Poster von Cindy Sherman aus den 1990er Jahren. Nach Rebecca Horn war sie die zweite Künstlerin, die mit dem Kaiserring geehrt wurde.

Haben Sie eine Lieblingsgalerie?

Die Galerienszene im Rheinland ist nach wie vor dynamisch und eng vernetzt. Mir gefällt dabei nicht nur die rheinländische Offenheit, sondern auch, wie oft sich im Vertrauten neue künstlerische Positionen und Kollaborationen auftun. Neben den etablierten Galerien wie Gisela Capitain, Buchholz, Nagel Draxler und Clages liegt meine Aufmerksamkeit auch auf jungen Kölner Galerien, darunter Drei, Khoshbakht, Jan Kaps und – ganz frisch vor Ort – LC Queisser aus Georgien. Daneben richte ich meinen Blick auf die vibrierenden Galerienlandschaften in Berlin und verstärkt London: Hier arbeiten Galerien wie Autograph und Amanda Wilkinson nicht nur an einer diskursiven und diversen Repräsentation, wie zum Beispiel mit wegweisenden Künstlern wie Rotimi Fani-Kayode und Ajamu X, sondern auch an aktuellen Bildungs– und Vermittlungsformaten. Zuletzt habe ich im Rahmen der Architekturbiennale in Venedig mit der in Paris gegründeten 193 Gallery zusammengearbeitet, die ein Programm unterstützt, das den transkulturellen Dialog fördert und Kunst jenseits westlich geprägter Lesarten vermittelt.

Welche junge Künstlerin oder welcher junge Künstler ist Ihnen zuletzt aufgefallen?

Die in Berlin lebende Künstlerin Helena Uambembe versteht sich als selbsternannte Hüterin von Geschichte(n). In ihren feinsinnigen Raum- und Klanginstallationen verwebt sie persönliche und kollektive Erinnerungen sowie Traumata aus Angola, Südafrika und Namibia und setzt diese in Beziehung zu kolonialen Machtstrukturen. Dabei entstehen vielschichtige Dialoge zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen individuellem Erleben und gesellschaftlichen Erfahrungen. Diese Form der Begegnung und des lebendigen Austauschs möchte ich mit meinem Programm im Mönchehaus Museum ermöglichen: eine herzliche Einladung an die Besucher*innen, sich zu erinnern, zu erzählen und zuzuhören – und so gemeinsam Geschichte(n) Raum zu geben.

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