Der ehemalige Direktor der National Gallery of Canada, Marc Mayer, hat für die aktuelle Folge von von „Was macht die Kunst?“ mit Lisa Zeitz über prägende Stationen seines Lebens und die Entstehung des „Centre for Feminist Art“ im Brooklyn Museum gesprochen
ShareIch bin generell visuell veranlagt, ich mag Bilder, dabei hat Kunst in meiner Familie kaum eine Rolle gespielt. Allerdings hatte ich einen Onkel, der Sonntagsmaler war. Er betrieb ein Geschäft für Armee- und Marinezubehör – ich komme aus einer Bergarbeiterstadt im Norden Ontarios, aus Sudbury. Im Keller seines Ladens hatte er eine kleine Galerie, in der er indigene Kunst ausstellte, Maler wie Norval Morrisseau. Er war der Einzige in meiner Familie, der mich in dieser Richtung bestärkt hat. Wir haben uns verstanden, weil wir beide Kunst und Kultur liebten. Es gab also keinen bestimmten Moment, an dem mein Interesse an Kunst erwacht ist – es war einfach immer da.
Geschmack hängt sehr stark vom Zeitgeist ab. Was 1975 als ästhetisch galt, kann im Jahr 2025 völlig albern sein – oder vielleicht auch nicht, denn Trends kommen und gehen. Wenn man sich beim Kunstverständnis zu sehr vom Zeitgeist leiten lässt, kann das jedoch dazu führen, dass man Werke aus der Vergangenheit nicht mehr richtig würdigt oder versteht und sich dadurch auch der bereichernden Erfahrungen beraubt, die diese Kunst bieten kann. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist ein Schnelldurchgang durch ein Museum. Es ist wie eine Zeitreise: Man geht von einer Epoche der Menschheitsgeschichte zur nächsten, von einer Kultur zur anderen – bei einem kurzen Spaziergang. Ich möchte mir vorstellen, wie es war, in dieser Zeit zu leben, die Denkweise dieser Menschen nachvollziehen und sehen, was überdauert. Welche grundlegenden menschlichen Werte zeichnen unsere Spezies aus? Auch das spiegelt sich in der Kunst. Und unser persönlicher Geschmack kann uns daran hindern, offen zu schauen und objektiv zu sein. Ein Museumsbesuch ist schließlich kein Einkaufserlebnis. Man ist nicht im KaDeWe. Natürlich, in einer kommerziellen Galerie gehört das Kaufen zum Konzept. Aber wenn man ein Museum besucht, sollte das nicht wie ein Besuch in einem Kaufhaus sein. Man sollte dort eine andere Einstellung haben. Ich versuche beim Museumsbesuch, meinen persönlichen Geschmack auszublenden – so gut es geht. Denn dort braucht man andere Fähigkeiten im Kopf.
Wir wurden damals von Elizabeth Sackler angesprochen, die später auch Trustee des Museums wurde. Sie schenkte uns das Werk „The Dinner Party“ von Judy Chicago. Im Rahmen dieser Schenkung gründeten wir das „Center for Feminist Art“, das dieses Werk dauerhaft beherbergt und zugleich Ausstellungs- sowie Dialogräume für feministische Kunst bietet. Das war eine entscheidende Errungenschaft. „The Dinner Party“ ist ein beeindruckendes Werk, das auch heute noch so beliebt ist wie zu seiner Entstehungszeit. Millionen von Menschen haben es gesehen, es ist um die Welt gereist. Als wir das Zentrum eröffneten, zeigten wir das Werk in einer Ausstellung, und ein Kritiker der New York Times schrieb: „Egal ob Sie das für Kitsch halten oder ob es Ihrem Geschmack entspricht – das hier ist der Mount Rushmore der feministischen Kunst.“ Und das stimmt! Es hat etwas Monumentales, auch im geistigen Sinne. Einige der Trustees wollten das Zentrum ursprünglich „Center of Women’s Art“ nennen. Ich habe ihnen gesagt, dass „Women’s Art“ kein kunsthistorischer Begriff ist. Als Kunstmuseum sind wir gewissermaßen auch etwas wie ein Anhang zur Universität, und der korrekte kunsthistorische Begriff lautet nun einmal „Feminist Art“. Der Feminismus ist eine großartige Errungenschaft: Die Emanzipation der Frauen hat unsere ganze Spezies vorangebracht.
Hier können Sie den ganzen Podcast mit Marc Mayer hören.