In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben begleiten. Folge 14: die schwedische Malerin Hilma af Klint
ShareWahrscheinlich ist es seltsam, einen Text über eine bedeutende Künstlerin mit der Beschreibung eines IKEA-Besuchs zu beginnen. Aber vor etwa zwei Jahren war ich mit einer Freundin in eben jenem Möbelhaus, und wir erlebten einen kleinen Schock. In der Bilderrahmen-Abteilung, in der man auch preiswerte Kunstdrucke kaufen kann, standen wir auf einmal vor der Reproduktion eines der bekanntesten Bilder der schwedischen Malerin Hilma af Klint. Vor einem hellblauen Hintergrund blickten uns die freundlichen floralen Mandalas und sich überlappenden Kreise von „Nummer 2, Kindheit“ an. Quasi zeitgleich entwich uns beiden ein erstauntes „Oh nein!“
Der Anblick fühlte sich wie das Echo eines gemeinsamen Besuchs der Venedig-Biennale 2013 an, als wir die Bilder von Hilma af Klint zum ersten Mal sahen. Die einst völlig vergessene Malerin, die heute als eine der wichtigsten Protagonistinnen der modernen Abstraktion gilt, wurde damals langsam, aber unaufhaltsam wiederentdeckt. Ihre Renaissance hatte erst zögerlich begonnen – 1989 hatte etwa das P.S.1 Contemporary Art Center in New York die Ausstellung „Secret Pictures by Hilma af Klint“ gezeigt. Neben einer großen Retrospektive im Moderna Museet in Stockholm im selben Jahr gab die Biennale der posthumen Klint-Revolution neues Momentum. Als das New Yorker Guggenheim die Künstlerin sechs Jahre später in einer Blockbusterschau ausstellte, wurde diese zu der bis dato bestbesuchten Ausstellung des Hauses.
Auch zwischen all den Bilderrahmen und Postern konnte ich mich noch genau an den Ort erinnern, an dem die Klint-Bilder im zentralen Pavillon der Venedig-Biennale gehangen hatten. Noch vor wenigen Jahren hatte sich so gut wie niemand für af Klint interessiert, nun war sie ein Mega-Star und ihre Werke wurden von einem globalen Möbelriesen reproduziert. Die Freundin und ich wussten beide nicht, was wir davon halten sollten. Es war irrational, aber es fühlte sich so an, als hätte uns jemand etwas weggenommen.
Hilma af Klint wurde 1862 als viertes Kind einer Offiziersfamilie in der Nähe von Stockholm geboren. Schon als junge Frau beeindruckte sie mit botanischen Zeichnungen und Aquarellen. Mit zwanzig wurde sie in die Kungliga Akademien, die königliche Kunsthochschule, aufgenommen, die erst seit ein paar Jahren und immer noch eher unwillig Frauen zuließ. Dort studierte sie fünf Jahre lang so erfolgreich Porträt- und Landschaftsmalerei, dass sie nach dem Studium ein Stipendium in Form eines eigenen Ateliers bekam und sie schon bald von Aufträgen für ihre naturalistischen Bilder leben konnte. Ihr heutiger Ruhm jedoch fußt nicht auf diesen kommerziell erfolgreichen Arbeiten, sondern auf 193 mystisch-abstrakten Werken, die zu ihren Lebzeiten kaum jemand zu Gesicht bekam. Diese entstanden hauptsächlich zwischen 1906 und 1915 und sollten eigentlich in einem spiralförmigen Tempel gezeigt werden, der allerdings nie gebaut wurde. Bevor af Klint 1944 im Alter von 82 Jahren starb, verfügte sie, dass diese Arbeiten erst zwanzig Jahre nach ihrem Ableben gezeigt werden durften, da sie nicht glaubte, dass das Publikum ihrer Zeit diese verstehen würde. Doch nach ihrem Tod geriet af Klint mehr und mehr in Vergessenheit. Ihre mystische Abstraktion musste nicht zwanzig, sondern fast siebzig Jahre warten, bis sie eine Öffentlichkeit fand. Nun allerdings eine, die auf sie gewartet zu haben schien.
Seit jener Biennale in Venedig habe ich einige Hilma-af-Klint-Ausstellungen besucht, unter anderem in der Londoner Serpentine Gallery 2016 oder vergangenes Jahr in der Tate Modern. Und jedes Mal habe ich die Ausstellung mit dem Gefühl verlassen, etwas durch und durch Bedeutendes gesehen zu haben. Ohne sagen zu können, was genau, glaubte ich, etwas mehr über die Welt und meine Gefühle ihr gegenüber verstanden zu haben. Ich hatte den Eindruck, dass mir die eindrücklichen Farben und Formen in af Klints Bildern einen Blick auf das Leben und mich selbst schenkten, den ich nicht in Worte fassen konnte. Selbst der eingangs erwähnte kleine Kunstdruck bei IKEA hatte mich kurz gefangengenommen. Im Original konnte ich mich dem konzentrierten Sog und der sensorischen Wucht von af Klints Arbeiten schon gar nicht entziehen. Vor allem ihre Werkgruppe „Die zehn größten Gemälde“, in der sie versuchte, eine visuelle Sprache für die Lebensphasen von Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter zu finden, machte mich sprachlos.
Vergangenes Jahr in der Tate Modern sah ich die zehn Werke zum ersten Mal zusammen an einem Ort. Ich hatte mich inzwischen so daran gewöhnt, die Bilder in Druck- oder Postkartenform zu sehen, dass mich ihre unwahrscheinliche Größe neuerlich überraschte. Sie sind 3,20 Meter hoch und 2,40 Meter breit und nehmen so viel Raum ein, wie man es sonst nur von pompösen Historiengemälden oder der Welt des testosterongeladenen abstrakten Expressionismus kennt. Dennoch haben sie nichts Selbstherrliches, sondern zeichnen sich im Gegenteil durch eine immanente Bescheidenheit aus. Sie sind nicht in Öl, sondern in Tempera gemalt, und nicht auf Leinwand, sondern auf Papier, das auf Leinwand geleimt wurde. Schon diese Technik gibt ihnen eine andere Präsenz.
In den Arbeiten dieser Werkgruppe erinnern konzentrische Zirkel immer wieder an Mandalas. Abstrakte biomorphe Formen lassen an Blütenkelche oder Kleeblätter denken, an Schneckenhäuser, Eier in Vogelnestern und mikroskopisch vergrößerte Kleinstlebewesen, an Körperzellen oder Atome. Alle möglichen Spiralformen wirken wir fröhliche Girlanden und manchmal gar wie DNA-Stränge. Doch all diese Assoziationen laufen ins Leere. Die Arbeiten scheinen eher einer organischen Geometrie verpflichtet zu sein. Sie wirken nicht so, als würden sie etwas Reales abstrahieren, sondern als wären sie das Ergebnis originärer Eingebung – oder eines ähnlichen Schaffensprozesses wie jenem, der auch in der natürlichen Welt für solche Formen sorgt.