In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben begleiten. Folge 14: die schwedische Malerin Hilma af Klint
ShareDarüber hinaus macht ihre intensive Farblust diese Werke zu einem Ereignis. Die meisten der Arbeiten beruhen auf einer den Hintergrund dominierenden, changierenden Farbe, die je nach Assoziationskraft der Zuschauenden die jeweiligen Lebensphasen symbolisieren können oder auch nicht. Auch die sonstige Farbgebung wirkt so innerlich motiviert und für das Bild jeweils so notwendig, dass sie etwas Selbstevidentes hat und sich jeder Interpretation entzieht. Man hat nur das Gefühl, das schönste Preußischblau, das schönste Altrosa, das schönste Cadmiumorange zu sehen, das man je gesehen hat. Die Wirkung dieser Bilder hat nichts mit Rationalität zu tun. Vielleicht ist sie gerade deshalb so enorm.
Der Raum, in dem „Die zehn größten Gemälde“ in der Tate Modern hingen, war der bestbesuche Raum der Ausstellung. Menschen saßen wie gebannt auf den Bänken, die vor den Bildern aufgestellt waren, eng aneinandergerückt und machten trotzdem immer wieder Platz für die neu hinzukommenden Betrachtenden. Manche von ihnen wirkten wie hypnotisiert. Eine ältere Dame und ihr Begleiter gingen bedächtig mit einem Gehstock jedes Werk ab, und Kinder aller Altersgruppen turnten davor herum. Auch nachdem ich schon fast eine halbe Stunde in dem Ausstellungsraum verbracht hatte, wollte ich nicht gehen. Die Bilder fühlten sich seltsam gegenwärtig an. Hier war das Leben, in seiner schönsten und tiefsten Ausprägung. Ich hatte das absurde Gefühl, dass hier die Antwort auf alle meine Fragen lag. Ich konnte sie nur nicht entschlüsseln.
Nur ein Aspekt dieser Werkgruppe irritiert heute: Die Behauptung der Künstlerin, dass ein Geist ihr befohlen habe, sie und alle anderen Tempelbilder zu malen. Hilma af Klint hatte schon als Siebzehnjährige begonnen, sich für den Spiritualismus, wie er sich in jener Zeit in ganz Europa verbreitete, zu interessieren. Der Tod einer älteren Schwester bewog die junge Frau ein Jahr später dazu, sich ganz der Bewegung zu verschreiben. Zusammen mit den Künstlerinnen Anna Cassel, Cornelia Cederberg, Sigrid Hedman und Mathilda Nilsson gründete sie die Gruppe „Die Fünf“. Die Frauen trafen sich regelmäßig, suchten gemeinsam nach Transzendenzerfahrungen, meditierten, sprachen protestantische und rosenkreuzerische Gebete, studierten theosophische Schriften von Helena Blavatsky, diskutierten die anthroposophischen Überlegungen von Rudolf Steiner und gingen ihrem Interesse an paranormalen Aktivitäten in spiritistischen Seáncen nach. In diesen Séancen glaubten sie, Botschaften höherer Entitäten zu empfangen, die sie in Zeichnungen und Notizbüchern festhielten. Diese Entitäten hatten sogar eigene Persönlichkeiten. Sie hießen Amaliel, Ananda, Clemens, Esther, Georg und Gregor. Die Geister namens Ananda und Georg hatten den Künstlerinnen befohlen, jenen spiralförmigen Tempel zu bauen. Und Amaliel gab Klint, nach eigener Auskunft, den Auftrag, die abstrakten Bilder zu malen.
Es ist schwer, diese Behauptungen einzuordnen. Man hat keinen Einblick in die Séancen, weiß zum Beispiel nicht, ob sie mit der Einnahme halluzinogener Substanzen verbunden waren, bestimmten Pilzen etwa, was vieles erklären würde. Man muss festhalten, dass es die Künstlerinnen mit ihren okkulten Glaubenssätzen ernst meinten. Wie auch viele andere Menschen ihrer Zeit. Ein paar hundert Kilometer weiter westlich und zwei Jahrzehnte später hielten die Surrealisten ähnliche Séancen in Paris ab.
Der Spiritualismus der „Fünf“ lebte von der zentralen Überzeugung, dass die materielle und die unsichtbare Welt miteinander verbunden waren und gerade die Naturwissenschaften jener Jahre schienen ihnen – etwa mit der Entdeckung der Röntgenstrahlung oder der des Atoms – recht zu geben. Mehr noch, die spiritistische Esoterik galt damals als etwas durch und durch Fortschrittliches, als ein mit der Naturwissenschaft, der Kunst und der Religion gleichberechtigtes Wissensgebiet an der Speerspitze der beginnenden Moderne. Ohne das Esoterische hätte es die moderne Abstraktion wahrscheinlich nie gegeben. Auch Piet Mondrian glaubte an den Spiritismus. Wassily Kandinsky war wie af Klint ein Anhänger der Anthroposophie Rudolf Steiners. Und Kasimir Malewitsch fand, dass man seinem „Schwarzen Quadrat“ mit der gleichen Andacht huldigen sollte wie christlich-orthodoxen Ikonen. Die geistigen Strömungen des fiebrigen Fin de Siècle und der nervösen ersten Dekaden des neuen Jahrhunderts entziehen sich unserem heutigen Verständnis. Etwas an ihnen wird immer befremdlich, immer unübersetzbar bleiben.