In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben begleiten. Folge 14: die schwedische Malerin Hilma af Klint
ShareDas Ende des Ersten Weltkriegs markierte ein Ende der Verbreitung okkulten Denkens, und auch af Klint schien sich von einem Großteil ihrer esoterischen Ideen zu verabschieden. Damit ging das Ende ihrer Mission der spiritistisch inspirierten Abstraktion einher. Die Künstlerin wandte sich malerischen Diagrammen zu, in denen sie etwa die Standpunkte der verschiedenen Weltreligionen ausdrücken wollte. In einer Aquarellserie versuchte sie, der Natur des Atoms geometrisch auf die Spur zu kommen. Und 1919 begann sie die Arbeit an einem Notiz- und Skizzenbuch mit dem Titel „Über Blumen, Moose und Flechten“, das sie zusammen mit ihrer Partnerin Thomasine Andersson führte. Darin nahm af Klint die künstlerisch-botanischen Erforschungen ihrer Jugend wieder auf. Die Zeichnungen und Aquarelle zeigen Wild- und Gartenpflanzen Nordeuropas, Hahnenfußgewächse und Kapuzinerkresse, Wacholderzweige und Kirschblüten, Hundsrosen und Wasserschwertlilien, Disteln und Hellebori. Sie sind von einer so auratischen Präzision, dass sie eine ganz eigene Ästhetik der Andacht entwickeln.
Immer wenn ich Hilma af Klints Bilder sehe, frage ich mich, warum sie mich so berühren, und kann es nicht sagen. Vielleicht liegt darin das eigentliche Geheimnis großer Kunst: Dass man sich ihr nur annähern, sie aber nie ergründen kann. Dass sie berührt und den Betrachtenden dabei zugleich die Sprache entzieht, um über dieses Berührt-Werden zu reden.
Ich frage mich aber auch, warum es so vielen Menschen geht wie mir. Liegt es daran, dass af Klints Wiederentdeckung in eine Zeit fiel, als die zeitgenössische Kunst ihren Glauben an die Abstraktion zu verlieren schien? Als man nicht mehr zu wissen schien, warum man überhaupt noch abstrakt malen sollte, und der Begriff der „Zombie-Abstraktion“ zu einem geflügelten Wort wurde? Daran, dass sich ihre spiritualistische Abstraktion nicht wirklich historisch anfühlt und sie daher nicht nur als historische Figur, sondern fast schon als eine zeitgenössische Künstlerin wiederentdeckt wurde? An der gewaltigen Erschütterungskraft, die mit der Entdeckung, dass af Klint schon Jahre vor Kandinsky ein vollendetes abstraktes Werk schuf, der bis dato als der „Erfinder“ der modernen Abstraktion galt? An unserem Bedürfnis, die Kunstgeschichte noch einmal aufzubrechen, neu zu schreiben oder zumindest an zentralen Stellen zu revidieren? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass all diese Fragen – mehr noch als jede Verwertung als Kunstdruck eines schwedischen Möbelriesen – vielleicht das größte Kompliment sind, das man einem künstlerischen Werk machen kann.
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Hilma af Klint und Wassily Kandinsky „Träume von der Zukunft“
K20, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
16. März bis 11. August
Daniel Schreibers neuestes Buch „Die Zeit der Verluste“ ist bei Hanser erschienen.