100 Jahre Chanel No. 5

Geist aus der Flasche

Abstrakt wie eine Glasskulptur, eigenwillig, betörend: Vor hundert Jahren kam Chanel No. 5 auf den Markt. Ein Duft, der die Welt eroberte und viel von seiner widersprüchlichen Schöpferin erzählt

Von Alexandra González
20.09.2021
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 189

Die Moderne hatte viele Mütter. Doch nicht einmal die an Facetten und Widersprüchen reiche Gertrude Stein war so paradox und brillant wie Coco Chanel. Beide förderten im Paris der 1920er-Jahre, Schmelztiegel der Lebensfreude und radikalen Aufbrüche, Künstlerkarrieren. Aber nur Coco Chanel darf für sich reklamieren, mit ihrem raffinierten Minimalismus die neue Frau (her)angezogen zu haben. Während die amerikanische Literatin die plastischen Möglichkeiten der Sprache auslotete, revolutionierte die französische Modeschöpferin mit ähnlichen Instrumenten aus dem Werkzeugkasten der Avantgarde die Idee des Parfüms. Ihren Duft Chanel No. 5 machte sie zu einem Phänomen, das alle Moden überdauern sollte. Noch heute wird er in der Kosmetikindustrie mal respektvoll, mal neidisch „Le monstre“ genannt.

Zu Beginn des Jahres 1921 saßen Coco und der russisch-französische Parfümeur Ernest Beaux, ihre „Nase“, im vornehmsten Restaurant von Cannes. Coco sprühte einige Male diskret eine Dosis jenes Dufts in die Luft, den Beaux gerade nach ihren Vorstellungen kreiert hatte. „Alle Frauen, die an unserem Tisch vorbeikamen, blieben stehen und schnupperten. Wir taten so, als merkten wir nichts“, wird sie sich später an diesen Testlauf erinnern. Der Duft griff in den Raum wie eine gläserne Skulptur, abstrakt, eigenwillig, betörend. Der Biophysiker und Parfümkritiker Luca Turin beschreibt den 3-D-Effekt so, als könne man Chanel No. 5 in der Luft streicheln: „No. 5 ist ein Brâncuși. Einzig unter den mir bekannten Düften vermittelt es den unwiderstehlichen Eindruck weicher, kurviger, goldener Materie, die sich genüsslich einem schläfrigen Panther gleich von der Kopfnote bis zum Fond räkelt.“

Vor 100 Jahren lancierte Coco Chanel dieses Produkt wie ein delikates Gerücht und brach mit sämtlichen Konventionen. Waren bislang Soliflore – also Parfüms, aus denen das Aroma einer einzigen Blütenart heraussticht – oder Allegorien romantischer Stimmungen en vogue, reizte No. 5 die Klaviatur von synthetischen und natürlichen Stoffen aus, um die Sinne zu verwirren. Unmöglich, eine einzelne Note zu identifizieren. Einem kubistischen Gemälde ähnlich, gab No. 5 das irrlichternde Lebensgefühl der Moderne wieder. Ein Duft für Frauen, der riechen sollte wie eine Frau, lautete Chanels Anweisung an ihre „Nase“.

Das war nicht nur ungeheuer vage, sondern auch noch eine freche Selbstthematisierung. Dieses Bouquet duftete weder sittsam-floral nach Veilchen oder Maiglöckchen, noch suggerierte es den süßlichen Märchenzauber aus Tausendundeiner Nacht, mit dem sich ihr Konkurrent, der Couturier Paul Poiret, bereits 1911 am Markt etabliert hatte. Chanel löste das Parfüm aus dem Würgegriff der Assoziationen so, wie sie ihre Zeitgenossinnen mit funktionaler, schlichter, gleichwohl eleganter Mode, für die sie auch in den Revieren der Männerbekleidung wilderte, aus den Fesseln stocksteif-verrüschter Ornate befreite.

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