Abstrakt wie eine Glasskulptur, eigenwillig, betörend: Vor hundert Jahren kam Chanel No. 5 auf den Markt. Ein Duft, der die Welt eroberte und viel von seiner widersprüchlichen Schöpferin erzählt
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20.09.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 189
Um den Charakter von No. 5 zu ergründen, muss man sich Cocos trostlose Kindheit vergegenwärtigen. Am 19. August 1883 als Gabrielle Chasnel in dem Loire-Städtchen Saumur geboren, verlor sie mit zwölf Jahren die Mutter. Umgehend gab sie ihr Vater, ein Hausierer, in die Obhut von Nonnen im einstigen Zisterzienserkonvent Aubazine. Ihre bescheidene Herkunft war Mademoiselle Chanel lebenslang unangenehm. Dennoch sollte alles in diesem Waisenhaus Aufgesogene – die Hochwertigkeit sauberer Nähte, der Geruch von Kernseife und frischer Wäsche, der Sinn für aufgeräumte Dezenz, die Schönheit aus dem Kontrast von kalkweißen Wänden und langen, schwarzen Schatten – das Fundament ihrer Ästhetik bilden.
Nach Jammerjahren in Aubazine verdingte sie sich mit Näharbeiten und probierte sich als Varietésängerin. Rufname: Coco. Étienne Balsan, ein wohlhabender Offizier und Rennpferdzüchter, fischte sie aus diesem Milieu. Auf seinem Landsitz Royallieu vollführte Coco den Drahtseilakt des jungenhaft hübschen Waisenmädchens, das um Selbstverwirklichung ringt, aber von der Gunst vermögender Männer abhängig ist. Auch Arthur „Boy“ Capel, dem attraktiven Kohlebaron aus England, verdrehte sie mit ihrer Ungezwungenheit den Kopf. Doch die ausgehaltene Garçonne schmiedete ehrgeizige Zukunftspläne und wünschte sich ein eigenes Atelier für ihr schnörkelloses Hutdesign, aus dem „dieser apart heruntergehungerte Spatz unter den Modemachern“ seinen „sündteuren, aber extrem reduzierten Waisenkind-Stil“ entwickelte, spitzte Truman Capote es einmal boshaft zu. Cocos beispiellosen Aufstieg schob Capel finanziell an: von der Putzmacherin zur Hohepriesterin des Chic, deren Reich eigene Boutiquen in Deauville, Biarritz und eine ganze Häuserzeile in der Pariser Rue Cambon umfasste.
Capel brachte ihr die Feinheiten von Literatur und Theosophie näher und ließ sie an eine unlösbare Seelenverwandtschaft glauben, man denke nur an die ineinander verschlungenen Cs des Chanel-Logos. Am 22. Dezember 1919 starb ihre große Liebe bei einem Verkehrsunfall an der Côte d’Azur. Um den Schmerz zu übertünchen, stürzte sich Coco in das nächste Abenteuer: ein eigenes Parfüm, dessen puristische, klinisch weiße Verpackung sie mit einem schwarzen Trauerrand schmücken würde. „Parfüm ist das unsichtbare, aber unübertreffliche Modeaccessoire, es verkündet die Ankunft und verzögert den Abschied“, formulierte sie wie zum Trost eines ihrer funkelnden Bonmots.
Die Idee mit dem Duftwässerchen hatte ihr wohl ihre beste Freundin Misia in den Kopf gesetzt, indem sie Coco bereits 1918 dazu bewegte, ein Renaissance-Manuskript zu erwerben, auf dem die Rezeptur für ein geheimnisvolles Elixier der parfümvernarrten Maria de’ Medici stand. Überhaupt Misia. Seit August 1908 war die schöne polnische Pianistin und Salonière mit dem spanischen Maler Josep Maria Sert liiert. Allerdings musste dieser sie mit der Pariser Boheme teilen: Ravel, Cocteau, Picasso zog Misia als Muse in ihren Bann; Renoir, Vuillard, Toulouse-Lautrec, Bonnard sowie Vallotton haben sie porträtiert. Mit Sergej Diaghilew, dem Impresario der innovativen Tanzkompanie Ballets Russes, verband sie eine enge, kreative und geschäftliche Beziehung und die Lust an geistreichen Lästereien. 1920 folgte Coco dem Ehepaar Sert sogar in die Flitterwochen nach Italien und wurde in Venedig Zeugin von Diaghilews Geldsorgen. Sie witterte ihre Chance und sponserte hinter Misias Rücken die Wiederaufführung des skandalös-triumphalen „Sacre du printemps“; für Coco Chanel ein wichtiger Schritt in den Maschinenraum der Avantgarde und der Beginn einer leidenschaftlich ausgetragenen Rivalität mit Misia. Den Wettkampf der Mäzeninnen entschied Coco für sich, als sie 1924 für das Ballets-Russes-Stück „Le Train bleu“ die Kostüme entwarf.
Die Suche nach dem perfekten Designerduft endete für Coco erst im Winter 1920. In Cannes gab ihr Ernest Beaux zehn nummerierte Phiolen mit jeweils unterschiedlichen Kompositionen zur Auswahl. Chanels Begegnung mit ihrer „Nase“ hatte ihr aktueller Liebhaber Großfürst Dmitri Pawlowitsch Romanow eingefädelt. Wie so viele seiner adligen Landsleute lebte Pawlowitsch nach der Russischen Revolution vollkommen mittellos im französischen Exil. Man kannte sich noch aus Moskau. Dort hatte Beaux für den Hoflieferanten Alphonse Rallet & Co. gearbeitet und 1913 zum Thronjubiläum der Romanow-Dynastie das pudrig-blumige Bouquet de l’Imperatrice Catherine II ausgeklügelt. Ein Jahr später wurde es in Rallet No. 1 umbenannt – alles Deutsche, selbst eine Hommage an die Kaiserin mit askanischem Stammbaum, war seit der Kriegserklärung 1914 nur noch ein Affront. Doch die Formel dieses Dufts führte Beaux mit sich, als er 1919 in der neuen Parfümfabrik von Rallet in einem Vorort von Cannes Fuß fasste. Chanel No. 5 könnte eine Weiterentwicklung dieses Duftes gewesen sein genauso wie ein auffallend ähnliches Parfüm namens Rotes Moskau, das in der Sowjetunion, abgefüllt in einem von Kasimir Malewitsch gestalteten Flakon, seine eigene Erfolgsstory schrieb.
Bei der fünften Probe weiteten sich Coco Chanels Augen: Das war ihr Duft! Der natürliche Wohlgeruch warmer Haut, eingefangen mit verschwenderischen Mengen an sinnlichem Jasmin. Dazu die kostbare Mairose, Ylang-Ylang, Sandelholz, Neroli und eine Überdosis der damals neuartigen Aldehyde. Diese flüchtigen, synthetischen Stoffe sind mit fein perlenden Champagnerbläschen vergleichbar. Clean und belebend lassen sie die Aromen aufsteigen und verstärken sie ebenso wie ein Spritzer Zitrone den Geschmack von Erdbeeren intensiviert. Ernest Beaux dachte auch an klare Polarluft und den Geruch von Neuschnee, Sinneseindrücke aus seinem Militärdienst auf der Halbinsel Kola im äußersten Nordwesten Russlands.
Für Coco Chanel bedeutete dieser Hauch von Frische und Sauberkeit, dass es gelungen war, die Synästhesien ihrer Jugend hinter Klostermauern in einem Flakon festzuhalten. Und warum sollte sie die Kreation nicht gleich nach der Nummerierung der Probe benennen? Die Fünf hatte ihr immer Glück gebracht, war die Fetischzahl ihrer Kindheit. In der Architektur von Aubazine ist diese Ziffer als Element der Zahlenmystik gegenwärtig. So haftete der Blick der zum Gebet gerufenen Zöglinge an einem fünfzackigen Stern im Kieselmosaik des Abteibodens. Ihre Kollektionen präsentierte CC verlässlich am 5. Mai. Zahlenspielereien beschäftigten auch die Moderne. In den kubistischen Gemälden von Pablo Picasso und Georges Braque tritt die 5 als Wirklichkeitsfragment auf; zur Konstruktivismus-Ausstellung „5×5=25“ verkündete Alexander Rodtschenko 1921 (!) das Ende der Malerei. Fast zur gleichen Zeit komponierte Igor Strawinsky in Chanels Villa Bel Respiro vor den Toren von Paris sein Stück „Die fünf Finger“. Seine Gönnerin muss diesen Titel als liebevolles Dankeschön verstanden haben.