100 Jahre Chanel No. 5

Geist aus der Flasche

Abstrakt wie eine Glasskulptur, eigenwillig, betörend: Vor hundert Jahren kam Chanel No. 5 auf den Markt. Ein Duft, der die Welt eroberte und viel von seiner widersprüchlichen Schöpferin erzählt

Von Alexandra González
20.09.2021
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 189

Wie alle Modeschaffenden war auch Coco Chanel geschickt darin, den Zeitgeist in ihrem Werk sichtbar zu machen. Der Flakon, den sie für die goldgelbe Flüssigkeit erdachte, entsprach dem ästhetischen Ideal einer ehrlichen Moderne: nahezu quadratisch, aus schmucklosem, transparentem Glas, erinnerte er an Apothekerflaschen und betonte seine Herkunft aus dem Labor. Oder war ein Fläschchen aus Boy Capels Reisenecessaire das sentimentale Vorbild? Chanel gefiel der Gedanke, auf ein industriell gefertigtes Objekt mit maskulinem Flair zurückzugreifen, ein Readymade im Geiste Marcel Duchamps. Auf dem simplen Glasstöpsel platzierte sie ihr unverwechselbares Logo. So nüchtern endete die Ära der preziösen, reich facettierten oder mit Blüten überwucherten Flakons im Lalique-Stil. Chanels Leitmotiv „Immer wegnehmen, immer weniger, nie etwas hinzufügen“ galt zweifellos auch bei der Etikettgestaltung. Schneeweißes Label, sparsame Sans-Serif-Typografie – et voilà die pariserische Reminiszenz an den Suprematismus. Kasimir Malewitsch ließ 1917 das „Schwarze Quadrat“ hinter sich, malte sein erstes „Weißes Quadrat auf weißem Grund“ und erklärte, dass die Kunst in der körper- und farblosen Sphäre, „den Ballast der religiösen Ideen von sich wirft und zu sich selbst gelangt“. Diesen Sinn für das Wesentliche teilte die ehemalige Klosterschülerin. Und so setzte sich dieses Programm beim Verpackungsdesign von No. 5 fort. Mit einem dezenten Schriftzug und dem breiten „Trauerrand“ war es streng geometrisch aufgebaut wie eine Schwarz-Weiß-Komposition von Mondrian. So viel Stildisziplin überzeugte auch das MoMA – der Karton wurde 1959 Teil der wegweisenden „The Package“-Schau.

Chanel No. 5 markiert einen olfaktorischen Point of no Return und den Abschied von der Erdenschwere der Belle Époque. Anfangs war es noch ein fast geheimes Luxusgut, das diese Meisterin der Auraproduktion nur ausgewählten Kundinnen schenkte, um mittels Verknappung Begehren zu wecken. Später erfolgte der Vertrieb exklusiv über ihre Boutiquen in Paris, Deauville und Biarritz. Im Frühjahr 1924 überließ Coco die Parfümsparte schließlich den Profis: Um das vielversprechende Wässerchen im großen Stil zu vermarkten, gründeten ihre neuen Geschäftspartner Paul und Pierre Wertheimer, Kosmetikunternehmer und Brüder aus einer jüdischen Familie mit deutschen Wurzeln, die Gesellschaft Les Parfums Chanel. Mademoiselle akzeptierte einen Kapitalanteil von zehn Prozent. Bald zogen dunkle Wolken auf. Ab 1927 wurde No. 5 – nunmehr in einem leicht veränderten Art-déco-Flakon mit facettierten Kanten und zum Juwel geschliffenen achteckigen Verschluss – so erfolgreich nach Amerika exportiert, dass sie fürchtete, dieser gefeierte Fetisch einer modeaffinen Mittelklasse entgleite ihr. Sie fühlte sich von ihren Mehrheitsgesellschaftern ausmanövriert und überzog sie mit einer Prozesswelle. Als die Wertheimers 1940 vor den Nazis nach New York flüchteten, hoffte Coco Chanel, die in ihrer Suite im Hotel Ritz Tür an Tür mit den deutschen Besatzern lebte, auf eine „Arisierung“ des Unternehmens, um das Parfümgeschäft erneut unter ihre Kontrolle zu bringen.

Die Wertheimers hatten derartige Winkelzüge vorausgesehen und ihre Anteile pro forma dem französischen Flugzeugbauer Félix Amiot überschrieben. So entgingen sie einer Enteignung und erwarben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Firmenbeteiligung zurück. Da standen die GIs vor der Chanel-Boutique in der Rue Cambon schon Schlange, um ein Fläschchen No. 5 zu ergattern. Mittlerweile Persona non grata, emigrierte Coco 1944 in die Schweiz. An ihrer Seite: Hans Günther von Dincklage, ein Offizier der deutschen Abwehr. Erst 1953 lockte sie ein Friedensangebot Pierre Wertheimers wieder nach Paris; im Tausch für ihre gesamten Anteile am Mode- und Parfümbusiness übernahm er bis zu ihrem Lebensende am 10. Januar 1971 alle Ausgaben der janusköpfigen Designerin.

Einen wetterwendischen Künstler wie Salvador Dalí bekümmerte die Schattenseite seiner Freundin wenig. Er feierte diese unmütterlichste Mutter der Moderne 1954 mit einer Appropriation von No. 5, indem er in eine Fotografie des Flakons seine theatralisch aufgerissenen Augen und den Bleistiftbart montierte. Andy Warhol zog 1985 nach und hob die berühmte Parfümflasche in seiner Siebdruck-Serie „Ads“ neben Signets unter anderem von Apple, Volkswagen und Mobilgas auf ein popkulturelles Podest. Auf den Spuren seiner eigenen Vergangenheit als Werbegrafiker hatte dieser Kunsthalbgott aus dem Underground Chanel No. 5 in seiner Ikonenparade den strahlendsten Glorienschein verpasst.

Dabei hatte das Produkt zunächst vollkommen ohne Werbung reißenden Absatz gefunden. „Eleganz“, meinte Coco Chanel, „ist Verweigerung.“ Erst im Jahr 1937 erschien die erste personalisierte Anzeige: Mademoiselle machte sich kurzerhand selbst zum Werbegesicht – am Kamin ihrer Ritz-Suite wurde sie von dem Modefotografen François Kollar in Szene gesetzt. Doch den größten Publicitycoup spendierte Marilyn Monroe mit ihrer Botschaft, sie trage im Bett nur ein paar Tropfen Chanel No. 5.

Beim nächsten Postergirl des Duftes wurde diese Star-Karte dann gezielt ausgespielt: Von 1968 bis 1977 posierte Catherine Deneuve als Imageträgerin für Chanel. Offensichtlich sollte das perfekte Oval ihres Leinwandgesichts auf den Fotos Richard Avedons an die rätselhaft-kühle Marmorschönheit der „Schlummernden Muse“ von Brâncuși erinnern. Und wenn die Schauspielerin Marion Cotillard für die Jubiläumskampagne – von No. 5 umschmeichelt – auf dem Mond tanzt, kommt man nicht umhin, an das Mädchen Gabrielle zu denken: wie es aus dem Waisenhaus in Aubazine auf den Sternenhimmel blickt und seinen Aufstieg nach ganz oben herbeisehnt.

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