Kunstwissen

Neu im Netz: Die Weltkunst 1927 bis 1944

Das haben sich Kunstfreunde, Wissenschaftler und Marktexperten seit Langem gewünscht: Die frühen Ausgaben der WELTKUNST sind online frei verfügbar. Auf Tausenden von Seiten tut sich das Kunstgeschehen eines ganzen Zeitalters auf. Und Provenienzforscher finden hier viele Anhaltspunkte bei der Recherche zu NS-Raubkunst.  Ein Besuch im Digitalisierungslabor der Universität Heidelberg

Von Sebastian Preuss
23.10.2019

Der Schritt ins digitale Zeitalter vollzieht sich in einer dunklen Kammer. Zumindest ist es für die Weltkunst so. Christine Brenneis sitzt vor einem großen Gerät, mit dem die Zeitschrift eingescannt wird. In den Jahren von der Gründung 1927 bis zur Einstellung im letzten Kriegsjahr 1944 erschien die Weltkunst im Zeitungsformat, darum wird für sie der größte Reproduktionsapparat im Haus benötigt. Die geöffneten Folianten mit dem dünnen Pressepapier müssen, so weit es ohne Beschädigung der Bände geht, geöffnet und unter einer Glasplatte möglichst plan platziert werden. An einem Bildschirm kann Brenneis die digitale Ansicht kontrollieren, bevor sie den Scan-Vorgang auslöst. Ein hoher Schaft mit Leuchte und und Kamera fährt herab, für einen kurzen Moment wird es hell und die Kamera löst aus. Dann fährt die Apparatur wieder hoch, die Glasscheibe hebt sich und Brenneis kann zur nächsten Doppelseite umblättern.

Aus Raritäten wird Open Access

Die Mitarbeiter der Digitalisierungsabteilung müssen sorgfältig arbeiten, denn es ist eine Arbeit für die Ewigkeit. Die digitalen Seiten der Weltkunst von 1927 bis 1944 sind seit Anfang September für jeden Interessierten rund um den Globus kostenlos zugänglich. Kunsthistoriker und vor allem Provenienzforscher haben sich das seit Langem gewünscht, denn die Weltkunst ist die wichtigste deutsche Chronik des Kunstmarktes und der Museen in den Dreißigerjahren. 

Die Weltkunst ist die wichtigste deutsche Chronik des Kunstmarktes und der Museen in den Dreißigerjahren, Foto: Peter Wolff für WELTKUNST
Die Weltkunst ist die wichtigste deutsche Chronik des Kunstmarktes und der Museen in den Dreißigerjahren, Foto: Peter Wolff für WELTKUNST

In großen Bibliotheken wie der Berliner Staatsbibliothek oder im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München ist sie vorhanden, wenn auch zuweilen lückenhaft. Woanders ist es schon sehr viel schwieriger, an alle Bände der Vorkriegszeit zu kommen. Auch wir in der Redaktion haben nur einige unvollständige Mappen mit Ausgaben der Dreißiger. Jetzt aber ist die Zeitschrift für die Zukunft ins große Onlineweltwissen eingespeist. Open Access für jeden und überall lautet die Devise, die wissenschaftliche Bibliotheken heute mit ihren Digitalisierungsprojekten hochhalten. Sicherung von Kulturgut ist dabei auch ein wichtiger Aspekt.

Maria Effinger – eine digitale Strategin

Wir befinden uns in der altehrwürdigen Heidelberger Universitätsbibliothek, die jeder hier (wie an allen Unis) nur UB nennt. In dem 1905 eingeweihten Neorenaissancebau aus rotem Neckarsandstein ist überall etwas los. Studierende strömen zur Leihstelle, brüten im neuen schicken Lesesaal über ihren Büchern, recherchieren an den Katalogcomputern oder plaudern in der Cafeteria. Maria Effinger hat ihr Büro gleich neben dem monumentale Jugenstil-Treppenhaus, denn bei ihr laufen in der Bibliothek viele Fäden – oder besser: Datenströme – zusammen. Sie ist eine digitale Strategin, und ihr verdankt sich der neue, bequeme Zugriff auf die Weltkunst. Als ich im vergangenen November mit ihr eine gemeinsame Podiumsdiskussion auf einer Berliner Tagung besprach, kamen wir eher durch Zufall darauf, wie wünschenswert eine Digitalisierung der Vorkriegs-Weltkunst doch wäre. Spontan sagte sie: „Dann machen wir es in Heidelberg“. Kurz darauf begann Effinger den eigenen Bestand zu sichten, bei Kollegen in München und anderswo die fehlenden Bände anzufragen, dann begann ihr Team mit der Arbeit.

Maria Effinger, Leiterin der elektronischen Publikationen (li.), mit ihrer Kollegin Christine Brenneis beim Sichten der Weltkunst-Ausgaben, Foto: Peter Wolff für WELTKUNST
Maria Effinger, Leiterin der elektronischen Publikationen (li.), mit ihrer Kollegin Christine Brenneis beim Sichten der Weltkunst-Ausgaben, Foto: Peter Wolff für WELTKUNST

Effinger, Archäologin und Kunsthistorikerin, begann 1996 nach ihrer Promotion in der Heidelberger UB als Referendarin für den höheren Bibliotheksdienst; seit 1998 arbeitet sie dort als wissenschaftliche Bibliothekarin. Sie leitet den Bereich Kunstgeschichte, der hier seit den Zwanzigerjahren Sondersammelgebiet ist und eine halbe Million Bände umfasst, und war von Beginn an eine treibende Kraft der Online-Erschließung der Bibliotheksbestände. Als Open-Access-Beauftragte der Universität und Leiterin der Publikationsdienste verantwortet sie die digitalen Editionen, das elektronische Veröffentlichen, die Webseitenredaktion der UB sowie zwei Plattformen für Kunstgeschichte (arthistoricum.net) und Altertumswissenschaften (propylaeum.de). Effinger ist zupackend und unbürokratisch, eine Persönlichkeit, die ständig neue Visionen hat und diese dann auch zügig umsetzen will. „Blätterst du noch oder forschst du schon?“, ist eine ihrer Liebeligsfragen: Ihr geht nicht nur um die bloße Digitalisierung, sondern um möglichst einfachen Zugriff und nutzerfreundliche Verknüpfung aller Daten.

Kulturgut sichern, Zugang schaffen

Begonnen hat alles 2001 mit der Digitalisierung von 27 Bilderhandschriften aus der Bibliotheca Palatina, die bis in die Gründungszeit der Heidelberger Universität 1386 zurück reicht und von den protestantischen Kurfürsten der Pfalz zu einem berühmten Wissensspeicher ausgebaut wurden. Im Dreißigjährigen Krieg konfiszierten die kaiserlich-katholischen Truppen die Bibliothek und ließen die 3700 Handschriften und 13.000 Druckwerke nach Rom in den Vatikan bringen. Dort lagern sie noch heute, bis auf die deutschsprachigen Manuskripte, die 1816 nach dem Wiener Kongress nach Heidelberg zurückkehrten. Das Palatina-Projekt weitete sich aus. Nach nur dreijähriger Arbeit waren 2009 alle 848 deutschen Handschriften online, darunter als größte Kostbarkeit der „Codex Manesse“, eine Sammlung von mittelalterlichen Liedern mit den berühmten ganzseitigen Dichterbildern der Spätgotik. Danach realisierten Effinger und ihre Kollegen ein noch ehrgeizigeres Unterfangen: Von 2012 bis 2018 wurde die Palatina digital wiedervereinigt. Effinger zeigt uns ein Gerät, das mit seinen auskragenden Armen ein wenig wie ein medizinischer Untersuchungsstuhl aussieht. Viereinhalb Jahre stand es im Vatikan, in wechselnder Besetzung scannten ihre Kolleginnen dort die lateinischen Palatina-Handschriften der Apostolischen Bibliothek.

Die alten Bände der Weltkunst werden behutsam mit einem großen Scanner digitalisiert, Foto: Peter Wolff für WELTKUNST
Die alten Bände der Weltkunst werden behutsam mit einem großen Scanner digitalisiert, Foto: Peter Wolff für WELTKUNST

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