Dresden

Hier lagert die Avantgarde

Barock und sehr viel Beton: Das Blockhaus am Elbufer hat sich als Museum und Forschungszentrum neu erfunden. In seinem Kern bewahrt es das Archiv der Avantgarden, das die radikalen Ideen des 20. Jahrhunderts als Impulsgeber für die Zukunft versteht

Von Tim Ackermann
30.04.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 226

Hinreißende Geschichten zu seinem Archiv gibt es zahlreiche. Etwa die, wie er den Nachlass des Zürcher Antiquars Hans Bolliger zum spontanen Fixpreis erwarb und später beim Blättern in den erworbenen Kunstkatalogen eingelegte Überraschungen wie Zeichnungen von Paul Klee oder Briefe von Ernst Ludwig Kirchner fand. 1,5 Millionen Objekte im Archiv, hat er die wirklich alle selbst angeschaut? „Es sind mehr“, sagt Marzona. „Und ja – ich habe alles in der Hand gehabt. Und vieles gelesen.“ Er lächelt und zündet die erloschene Pfeife wieder an.

Reiseschreibmaschine „Valentine“ von Olivetti, 1969 – 2000
Reiseschreibmaschine „Valentine“ von Olivetti, 1969 – 2000. © Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona, SKD, Foto: Herbert Boswank

Es ist bekannt, dass Egidio Marzona, der ein Drittel seiner Kunstsammlung den Staatlichen Museen zu Berlin verkaufte und zwei weitere Drittel schenkte, auch sein Archiv gern in der Hauptstadt gesehen hätte. Jahrelange Gespräche mit dem für seine Kompliziertheit berüchtigten Berliner Museumsverbund führten zu keinem konkreten Ergebnis. Starke Signale erhielt der Sammler dagegen aus Dresden vom damaligen Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen, Hartwig Fischer. Und das Blockhaus war als mögliches Domizil vorhanden. Dass die Freude über die bevorstehende Eröffnung des ADA beim Sammler nun etwas gedämpft ist, hat mit dem architektonischen Konzept zu tun: „Mein erklärter Wunsch war, dass es ein begehbares, kuratiertes, inszeniertes und benutzbares Archiv ist, in dem auch das normale Publikum in einem Spaziergang gewissermaßen durch die Wunderwelt des 20. Jahrhunderts flaniert“, sagt er. „Und dieser Wunsch ist eben nicht umgesetzt worden. Stattdessen wurde ein Lager gebaut.“

Geplant war eigentlich ein begehbares und benutzbares Archiv

Tatsächlich, so erfährt man es beim Besuch im ADA, ist es im Funktionskonzept des Hauses nicht vorgesehen, dass das Publikum das Depot im Betonkubus betritt. Die Idee eines Schaudepots auf der mittleren der drei Ebenen sei aufgegeben worden, da aus statischen Gründen nur auf dieser Ebene einige Rollregale ihren Platz finden durften und man anders das Material nicht untergebracht hätte, erklärt Rudolf Fischer, Leiter des Archivs der Avantgarden. Wer ein bestimmtes Archivale studieren möchte, ob aus privatem Interesse oder im Rahmen eines Forschungsprojekts, muss beim Team des Hauses zunächst eine Anfrage stellen. Dann wird der entsprechende Ordner, der weiterhin nach Marzonas Katalogisierungssystem nummeriert ist, aus den klimaregulierten, fensterlosen Depoträumen mit ihren nüchtern weißen Wänden in die zwei Leseräume im Obergeschoss zur Vorlage gebracht.

Abstrakte Komposition von Hannah Höch aus dem Jahr 1922
Abstrakte Komposition von Hannah Höch aus dem Jahr 1922. © Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona, SKD, Foto: Herbert Boswank/ VG Bild-Kunst, Bonn 2024

In der Jurybegründung zum ADA-Architekturwettbewerb lässt sich nachlesen, dass der Siegerentwurf auch „kontrovers diskutiert“ wurde. Beim Besuch fällt zum Beispiel auf, dass die enormen Deckenhöhen im öffentlich zugänglichen Teil sehr gut zu Monumentalgemälden passen würden, jedoch in einem Missverhältnis zu den eher kleinen Exponaten des Archivs stehen. Mit der Planung von Zwischengeschossen, so scheint es, hätte man die Grundfläche für Ausstellungen zudem problemlos vergrößern können.

Trotz kontroverser Diskussionen bleibt man zuversichtlich

Rudolf Fischer ist aber zuversichtlich, dass das ADA gut funktionieren wird: „Wir sind hier in der Gestaltung wirklich flexibel – können uns bei Bedarf ausdehnen und wieder zusammenziehen.“ Zu diesem Konzept gehören modulare Präsentationsinseln im Obergeschoss, die Arbeitsplätze mit Schauvitrinen kombinieren, in denen Designobjekte oder Materialien zu sehen sind. Auch zu Marzona und seinem Netzwerk befreundeter Künstlerinnen und Künstler soll hier informiert werden.

Prototyp von Daniel Weils Uhr „Jour“ aus der Serie „Living Room“ aus dem Jahr 1989
Prototyp von Daniel Weils Uhr „Jour“ aus der Serie „Living Room“ aus dem Jahr 1989. © Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona, SKD, Foto: Herbert Boswank

Die erste große Ausstellung im Untergeschoss trägt den Titel „Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls“. Sie zeigt in über 300 Texten, Zeichnungen, Collagen, Fotomontagen oder Filmen, dass der Surrealismus spätere Strömungen wie Fluxus oder Art brut beeinflusste. Wenn man dem Kurator Przemysław Strożek lauscht, der das theoretische Fundament der Schau auf den Gedanken des Philosophen Jacques Derrida begründet, der sich wiederum auf Sigmund Freud bezog und das Archiv zwischen Eros und Thanatos ansiedelte – also zwischen Lebens- und Todestrieb –, dann spürt man einmal mehr, wie verschlungen die Geschichten im ADA sind. Und dass der im Archiv verborgene Schatz an Erkenntnissen vielleicht niemals zur Gänze gehoben werden kann.

Service

Ausstellung

„Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls“,

Archiv der Avantgarden – Edigio Marzona,

5. Mai bis 1. September,

archiv-der-avantgarden.skd.museum

 

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