Dresden

Hier lagert die Avantgarde

Barock und sehr viel Beton: Das Blockhaus am Elbufer hat sich als Museum und Forschungszentrum neu erfunden. In seinem Kern bewahrt es das Archiv der Avantgarden, das die radikalen Ideen des 20. Jahrhunderts als Impulsgeber für die Zukunft versteht

Von Tim Ackermann
30.04.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 226

Vergessen wir für den Anfang die erstaunliche Architektur mit ihrer Barockfassade und dem Betonkubus im Inneren. Das Archiv der Avantgarden lässt sich besser als riesiger Irrgarten aus tausend einzelnen Geschichten verstehen, die wieder zu tausend neuen Geschichten führen. Man kann den Erzählsträngen folgen, die an Ecken abbiegen, sich verzweigen oder sich an Kreuzungen mit anderen Strängen neu vereinen. Und bei alldem kann man herrlich die Zeit vergessen und sich selbst verlieren. Das ist der postmoderne Zustand dieses Avantgarde-Depots: ein analoger Hypertext aus 1,5 Millionen Objekten zu Kunst, Literatur, Architektur, Design, Musik, Tanz, Film, Performance des 20. Jahrhunderts.

Wer im März das Blockhaus am Dresdner Elbufer besuchte und beobachtete, wie das Sonnenlicht durch die Fenster auf den Boden der leeren Ausstellungshalle fiel, der begriff, dass diese Leere nur vorübergehend sein konnte. Bis der gedankliche Kosmos im Kubus in einem kuratorischen Urknall als grandiose Überforderung in den Köpfen des Publikums entstehen wird.

Ein Gebäude mit Geschichte

Am 5. Mai eröffnet das Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona (ADA). Damit vollzieht sich auch die Wiedergeburt des Blockhauses. Denn das Wachgebäude am Nordende der Augustusbrücke, das ab 1732 nach Entwürfen des französischen Architekten Zacharias Longuelune errichtet, 1892 durch ein Ober- und Dachgeschoss erweitert wurde und schon immer Blockhaus hieß, hat in seiner Geschichte vieles erleiden müssen: Beim Bombardement Dresdens im Februar 1945 brannte es aus. Wiedereröffnet wurde es erst Anfang der Achtzigerjahre als Gaststätte und Veranstaltungszentrum der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Nach der Wende fiel das Haus dem Freistaat Sachsen zu, dann kam im Jahr 2013 mit dem Elbhochwasser das zweite fatale Ereignis. Das von den Fluten stark beschädigte Gebäude musste erneut schließen. Als dann der Sammler Egidio Marzona drei Jahre später sein Archiv der Avantgarden nach Dresden schenkte, stand das Blockhaus als Standort erwartungsvoll bereit.

Nach dem desaströsen Elbhochwasser 2013 musste das Blockhaus schließen und stand lange leer. Mit dem radikalen Umbau, bei dem die Außenwände erhalten blieben, erwacht es zu neuem Leben
Nach dem desaströsen Elbhochwasser 2013 musste das Blockhaus schließen und stand lange leer. Mit dem radikalen Umbau, bei dem die Außenwände erhalten blieben, erwacht es zu neuem Leben. © Klemens Renner / SKD

Die Sieger des 2017 ausgelobten Architekturwettbewerbs, Nieto Sobejano Arquitectos aus Madrid, haben das Gebäude in den vergangenen sechs Jahren radikal umgebaut: Allein die historischen Außenwände blieben stehen, das Innere wurde dagegen komplett entkernt. Um gegen künftige Hochwasser besser gewappnet zu sein, ist nun eine Auffangwanne unter das Gebäude gelegt, und die Haustechnik residiert im Dachstuhl. Der visuelle Clou ist der eingebaute Betonkubus, der auf drei Ebenen das Depot des ADA enthält: Seitliche Lichtschächte, die bis zur Spitze des Gebäudes reichen, suggerieren den Besuchenden im Erdgeschoss das Gefühl, dass der Würfel frei über ihren Köpfen schwebt. Tatsächlich verteilt sich sein Gewicht jedoch über zwei anliegende Treppenhäuser und über ein Strebewerk aus Stahl, das hinter einer Verschalung verborgen und in den Ecken verankert ist. An der Südwand der Ausstellungshalle führt zudem eine Betonwendeltreppe – kein notwendiges, aber formal doch pittoreskes Element – ins obere Geschoss mit den Leseräumen.

Als Forschungszentrum lockt das ADA mit bedeutsamen Vor- und Nachlässen

Viele Dresdnerinnen und Dresdner werden dem neuen Innenleben ihres für 29 Millionen Euro verwandelten Blockhauses neugierig begegnen. Das ADA lockt dabei nicht nur mit Ausstellungen. Es dient auch als Forschungszentrum, da es viele Vor- und Nachlässe von Protagonisten aus Kunstwissenschaft und Kunstmarkt beherbergt, aus denen sich interessante interne Details zu den Mechanismen des Kunstbetriebs herauslesen lassen.

Fein verpackt: Wolf Vostells „Le Monde pour Marc“ von 1974
Fein verpackt: Wolf Vostells „Le Monde pour Marc“ von 1974. © Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona, SKD, Foto: Herbert Boswank/ VG Bild-Kunst, Bonn 2024

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