Barock und sehr viel Beton: Das Blockhaus am Elbufer hat sich als Museum und Forschungszentrum neu erfunden. In seinem Kern bewahrt es das Archiv der Avantgarden, das die radikalen Ideen des 20. Jahrhunderts als Impulsgeber für die Zukunft versteht
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30.04.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 226
Das neue Domizil markiert einen sehr wichtigen Zwischenschritt in der Entwicklung des ADA. Wer sich hingegen für die Anfänge der Institution interessiert, wird in Dresden nicht fündig, sondern muss ins Berliner Westend fahren. In einer Stadtvilla mit vielen Ordnern im Keller sitzt der Sammler Egidio Marzona mit einer Pfeife in der Hand auf einem dunkelgrauen Sofa, das farblich exzellent mit der danebenliegenden Bodenplattenarbeit von Ulrich Rückriem harmoniert. Das Entree des Hauses bilden vier Wände mit übervollen Bücherregalen, in einem weiteren Raum hängen Papierarbeiten und kleinformatige Gemälde Rahmen an Rahmen.
In der internationalen Kunstwelt wurde der 1944 in Bielefeld geborene Italiener zunächst als Liebhaber von Minimal Art, Konzeptkunst und Arte povera bekannt – jenen Kunstströmungen der Nachkriegszeit, die mit ästhetisch sehr reduzierten Mitteln eine Fülle komplexer Assoziationen auslösen. „Viele Sammler sind Fetischisten“, sagt Marzona, „aber ich bin es nicht und bin auch kein religiöser Mensch. Das Religiöse in der Kunstwelt, das Zelebrieren des Meisterwerks, hat stets meine Skepsis erregt. Deshalb habe ich mich in den Anfängen Kunstrichtungen zugewandt, die eigentlich immateriell sind.“
Zu den frühesten Erwerbungen Marzonas gehörte Ende der Sechzigerjahre ein weißes Bild von Robert Ryman. „Ich kaufte es, weil ich zum ersten Mal etwas so Freches gesehen hatte. Und ich wollte auch frech sein“, erinnert er sich. „Meine Familie war entsetzt: 300 Dollar für ein weißes Nichts! Sie wollte mich fast entmündigen.“ Um nicht die väterlichen Betonsteinwerke übernehmen zu müssen, schmiss er das Ingenieursstudium und wandte sich ganz der Kunst zu. Neben seiner beginnenden Sammlungstätigkeit gründete er einen Verlag, der Kunstbücher herausgab, die er stets selbst recherchierte: „Ich habe beispielsweise das erste Buch über Fotografie am Bauhaus gemacht. Dafür bin ich drei Jahre lang durch die Welt gereist, um die noch lebenden Bauhäusler zu besuchen“, erzählt Egidio Marzona. Mit der Zeit habe er viel Material und ein enormes Wissen zusammengetragen. Seine Faszination für die großen Archive in den USA wie das Getty Research Institute in Los Angeles oder die Beinecke Library der Yale University habe bei ihm schließlich den Wunsch geweckt, Ähnliches in Europa zu verwirklichen.
„Die Kunstismen“ heißt das berühmte Buch aus dem Jahr 1925 von Hans Arp und El Lissitzky, das der Sammler schon als Kind geschenkt bekam und das ihm als Richtschnur für die Umkreisung des Avantgardebegriffs diente – den er dann in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zur Pop-Art, Konzeptkunst und Fluxus ausdehnte. Es fasziniere ihn, nicht Werke, sondern Ideen zu kaufen, hat er mal gesagt. Doch was meint er damit? „Es gibt ja immer zuerst die Idee, bevor etwas entsteht. Und dann finden ein paar Menschen diese Idee gut und bezeichnen sie als Kunst“, sagt Marzona. „Mein Interesse galt eben immer dem Prozess, wie es dazu gekommen ist. Weil dieser Prozess für mich das Kunstwerk viel besser erklärt, als wenn ich es mir im Museum anschaue und es vielleicht hübsch finde. Das allein ist mir nicht genug!“
Ausgangspunkt des erwähnten Prozesses sei fast immer die auf Papier geschriebene oder gedruckte Idee – vielleicht in einer ganzen Publikation, wie die im Oktober 1924 von Yvan Goll herausgegebene erste Ausgabe der Zeitschrift Surréalisme, oder auch einfach nur als schön gestaltetes Plakat zu einem Dada-Nachmittag. „Das sind alles Objekte, die für mich eine Aura haben“, erzählt der Sammler. „Ich bin ein analoger Mensch geblieben. Ich glaube an die Macht des Papiers.“ Das Archiv beschreibt er als ein Zeitbild des 20. Jahrhunderts, in dem die Dinge und Disziplinen in horizontalen Streifen gleichrangig miteinander verbunden seien. „Nehmen wir das Beispiel Max Ernst, von dem ich viel besitze: Ein frühes, wertvolles Bild hat für mich die gleiche Bedeutung wie ein Brief von Max Ernst oder ein Foto von ihm“, erklärt Marzona. „Somit ist das Archiv demokratisch gedacht und erzählt eine Geschichte, in diesem Fall über Max Ernst.“