Auktion bei Kornfeld

Verklärende Geschichten

Ein umfangreiches Chagall-Konvolut trifft im Berner Auktionshaus Kornfeld auf Werke von Otto Dix und Francisco de Goya

Von Ivo Kranzfelder
13.06.2022
/ Erschienen in Kunst und Auktionen 10/22

Chagall ist immer eine Bank. Wie Picasso ist er in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ein Solitär. Mit dem Unterschied, dass Picasso stets mit neuen Wendungen und Erfindungen überraschte, während Chagall seinem Stil und seiner Formensprache von den Jahren nach 1908/10 bis zu seinem Tod 1985 mit lediglich geringfügigen Änderungen immer treu blieb.

Nur um die Vielgestaltigkeit dieser als „Moderne“ bezeichneten Epoche beispielhaft anhand einer Generation von unterschiedlichsten Künstlertypen anzudeuten: Chagall wurde 1887 geboren, Picasso (wie Léger) 1881, Delaunay 1885. Wenig älter waren Henri Matisse oder Georges Rouault. Francis Picabia erblickte 1879 das Licht der Welt, Marcel Duchamp im selben Jahr wie Chagall. Man könnte auch Paul Klee oder Ernst Ludwig Kirchner erwähnen, die ebenfalls dieser Generation zuzurechnen sind. Nicht zu vergessen die anderen im russischen Kaiserreich geborenen Künstler – etwa den zwanzig Jahre älteren Wassily Kandinsky und den sechs Jahre jüngeren Chaim Soutine, die beide ihre Heimat verließen und nicht mehr dorthin zurückkehrten.

Und dann war da noch in Russland beziehungsweise der Sowjetunion der neun Jahre ältere Kasimir Malewitsch. Dieser traf mit Chagall 1919 an der ein Jahr vorher auf Chagalls Initiative neu gegründeten Kunstschule in seiner Geburtsstadt Witebsk (heute in Belarus) aufeinander. Dem Konstruktivismus beziehungsweise der suprematistischen Esoterik Malewitschs (und El Lissitzkys) wollte Chagall jedoch nicht folgen. „Im Westen“, schrieb damals Carl Einstein, „war Piet Mondrian der Prediger dieses protestantischen Vakuums. In Russland missionierte Kasimir Malewitsch.“

Chagall blieb nicht nur bei seiner Form, sondern auch bei seinen Inhalten, den oft verklärten und verklärenden Geschichten und Schilderungen aus seiner Heimat, dem jüdischen – chassidischen – Leben, verbunden mit russischer Volkskunst. In der Frühzeit noch angereichert durch Inspirationen – Fauvismus, Kubismus – aus der aktuellen Kunstszene in Paris, wo er sich schon von 1911 bis 1914 aufhielt. „Der Pariser Chagall war fertig“ – so wiederum Einstein im Jahr 1931. „Man griff die neuen Formen und erfüllte sie mit russischer oder jüdischer Ethnologie; das simultané des Delaunay wurde episch (…), der Kubismus wurde ein Mittel, die Anekdote von mehr als einer Seite zu erhellen.“ Einstein stellte schon damals Ermüdung und Wiederholung im Werk von Chagall fest. Das ändert jedoch nichts an dem singulären Beitrag Chagalls zur Kunst des 20. Jahrhunderts mit innovativen Bildfindungen insbesondere in der frühen Zeit.

Vor allem ist Chagall eines: populär. „Das Publikum“, so Nikolaj Aron 2003 in seiner Monografie, „hat Chagalls Eskapismus honoriert, für seine Bilder astronomische Preise bezahlt und Millionen von Postkarten, Kalendern und Bildbänden gekauft.“ Während es bei anderen Künstlern oft einzelne Bilder sind, die zu einer Marke und ausgiebigem Merchandising unterworfen werden – Munchs „Der Schrei“ kann man sich sogar aufblasbar ins Zimmer stellen –, ist es bei Chagall sein ganzer Stil. Blumig auch viele der Würdigungen, zum Beispiel durch Paul Ferdinand Schmidt in seiner 1952 erschienenen Geschichte der modernen Malerei: „Über der Irrealität seiner Gesichte stand humane Gesinnung, der zarteste Lyrismus eines empfindsamen Herzens. Wie intensiv er seine Heimat und ihr Ghetto liebte, erfuhr man aus der Stärke des Gefühls, mit dem die armseligen Holzhäuschen aus Liosno und die dumpfe Gebundenheit ihrer Bewohner begnadet wurden.“ Und so weiter und so fort.

Herbert Read hat 1959 ebenfalls in einer Geschichte der modernen Malerei versucht, dem Phänomen Chagall auf die Spur zu kommen. Obwohl ein künstlerischer Außenseiter, sei Chagall „einer der am stärksten ausstrahlenden Maler unserer Zeit“. Das läge allerdings weniger an seinen rein künstlerischen Qualitäten als vielmehr an seinem „von einem unbestimmten Heimweh erfüllten Symbolismus, der unmittelbar auf die Empfindungen des Betrachters wirkt“. Noch 2013 hieß es in der Neuen Zürcher Zeitung anlässlich einer Chagall-Ausstellung, Zürich setze damit die Reihe seiner „Wohlfühlausstellungen“ fort – obwohl schon dort der Fokus auf dem Frühwerk lag.

Erst 2017 in Basel wurde dieses Frühwerk auch in einen historischen Kontext gestellt und damit in Teilen anders bewertet: Die Ankunft in Paris 1911 sei für den jungen Chagall ein Kulturschock gewesen, durch den sich der Blick auf seine vermeintlich idyllische Heimat verändert habe. Ein zweiter Bruch habe sich ereignet, als Chagall – bei einem Besuch in der Heimat, überrascht durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs – nicht nach Paris zurück konnte, sondern gezwungen war, in Witebsk zu bleiben. Dort entstanden dann beispielsweise die vier großen Porträts von Rabbinern und auch Zeichnungen, die die Realität des Kriegs und der Revolutionszeit wiedergeben. Nun sind diese frühen Bilder dem Markt nicht zugänglich, da sie sich bereits in Sammlungen (größtenteils von Museen) befinden. Auch ist es eine Tatsache, dass das Interesse von Forschern und das von Privatsammlern oft nicht deckungsgleich ist.

Bei Kornfeld kommt am 17. Juni ein umfangreiches Konvolut von circa fünfzig Chagall-Bildern zum Aufruf, davon vierzig Bilder in einer Sonderauktion, der Rest im Rahmen der Moderne-Versteigerung. In der Sonderauktion stammen alle Bilder aus dem Nachlass – also von der Familie Chagall. Angeboten werden kleine und mittlere Formate ab den Fünfzigerjahren – jeweils mit unterschiedlichen Versatzstücken der geläufigen Chagall-Ikonografie. Zu Taxen von 100.000 bis 450.000 Franken.

Mit 2 Millionen Franken am höchsten taxiert ist in der Moderne-Auktion ein großer Blumenstrauß vor blauem Hintergrund, links kleiner ein Liebespaar, rechts eines der Chagall’schen Tiere, im Hintergrund unten – in Andeutung – die Häuser seines Heimatdorfes, entstanden 1978. Erst am 4. März dieses Jahres brachte eine 1970 gemalte Zirkusszene bei Christie’s in London 1,5 Millionen Pfund. Für das allerdings berühmte „Le jongleur“, gemalt 1943 in New York und ehemals im Besitz des Art Institute of Chicago, bewilligte ein Käufer am 1. März im Evening Sale am selben Ort immerhin 7,5 Millionen Pfund. Lediglich 250.000 Franken werden dagegen bei Kornfeld für eine 1979 in Mischtechnik gemalte Darstellung mit Moses erwartet, der mit den Gesetzestafeln vom Himmel herabschwebt, während unten das auserwählte Volk um das goldene Kalb, das schon rot angelaufen ist, tanzt.

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