Seit fünf Jahrzehnten reist die amerikanische Künstlerin Roni Horn nach Island. Die Auseinandersetzung mit der dortigen Landschaft ist ihr Lebenswerk
ShareVon den „To Place“-Bänden sind nur noch wenige im Handel erhältlich. In Kunstbuchantiquariaten findet man sie in Vitrinen verwahrt und online werden sie zu hohen Preisen gehandelt. Bis der Verleger Gerhard Steidl das Projekt vor über zwanzig Jahren exklusiv übernahm, sind die Bücher von verschiedensten Akteuren der New Yorker Kunstszene ermöglicht worden. Zwei Bände erschienen zudem bei Walther König, eines im Selbstverlag. Als wir Roni Horn telefonisch in New York erreichen, sitzen die Künstlerin und ihr Verleger Steidl gerade beisammen, um die Vorzugsausgabe des neuen „To Place“-Bandes „Mother, Wonder“ (2023) zu besprechen. Das Buch wurde in diesem Sommer veröffentlicht und soll vor Ende des Jahres noch als Sonderedition mit handgefertigtem Schuber und einem Algrafie-Druck erscheinen.
Der Titel des Buches „Mother, Wonder“ erinnert an die Idee von „Mutter Erde“, es soll aber auch das Wunderland Lewis Carrolls anklingen. Wer sich die Fotografien des Bandes anschaut, dem erschließt sich der Titel unmittelbar. Zu sehen ist eine märchenhafte, grün-bräunlich gefärbte Hügelwüste, die sich zu erstrecken scheint, so weit das Auge reicht. Wie eine Illustration zu Novalis’ Vorstellung „Die Natur hat Kunstinstinkt“ wirken die Aufnahmen: Die einzelnen Berge erinnern an die weibliche Brust, die in den Himmel ragt – als wären Mammatuswolken unter einer Schicht Erde erstarrt. Sogar Brustwarzen sind in der Brustlandschaft vorhanden. Durch den Kot der Vögel, der sich immer an der höchsten Stelle des Hügels findet, ist eine Spitze entstanden. Die Doppeldeutigkeit der Landschaft – wie hier, wo der Mensch zwar deutlich erotische Motive erkennt, es aber eigentlich keine Erotik gibt – macht den Reiz dieser Bildserie aus und war für die Künstlerin der Anlass, sie in ihr „To Place“-Gesamtwerk aufzunehmen. Entstanden sind die Bilder zwischen 2010 und 2013. Denn mittlerweile reist Roni Horn weniger nach Island und arbeitet größtenteils aus ihrem vorhandenen Fundus. Ohne dass es ihr ein Hauptanliegen ist, dokumentiert ihre Arbeit so auch eine vergangene Zeit auf Island, die inzwischen durch den zunehmenden Tourismus verschwunden ist.
Bei unserem Telefonat erzählt Roni Horn, dass sie die Gegend von Landbrot, wo die Aufnahmen von „Mother, Wonder“ entstanden sind, bereits bei einer ihrer ersten Islandreisen besuchte, aber damals dort nicht übernachten konnte, weil ihr die Landschaft zu unheimlich aufgeladen war. Auf die Frage, ob ihr zwanzig Jahre später die Landschaft vertrauter vorkam, antwortet sie: „Es ist immer auf andere, sehr überzeugende Weise anders. Das ist eigentlich eine Art Metapher für das Leben, mit der ich mich wohlfühle: Man wird eine Landschaft niemals wirklich kennen können.“ Diese Verbildlichung des Lebens als ewig laufender Wandel der Natur ist für die Künstlerin gleichbedeutend mit der sich immer wandelnden Identität. Ihre Beschäftigung mit Island geht inzwischen längst über die Publikation von „To Place“ hinaus. Im Jahr 2007 eröffnete sie im Westen der Insel die „Library of Water“, ein Museum, in dem Wasserproben verschiedener Eisberge Islands ausgestellt sind. Es ist ein lebendiger Ort, der Schriftstellerinnen und Schriftstellern Stipendienaufenthalte ermöglicht und wo verschiedene Veranstaltungen stattfinden. Hier entstand auch „Weather Reports You“ (2007), eines der persönlichen Lieblingsbücher der Künstlerin, in dem Islandbewohner von eigenen Wettererlebnissen erzählen.
Für das neue Jahr bereitet Roni Horn gleich zwei große Ausstellungen in Europa vor. „Give Me Paradox or Give Me Death“ ist der Titel ihrer Werkschau, die ab dem 23. März im Museum Ludwig in Köln stattfindet. Es wird ein umfassender Überblick über ihr Werk sein, unter anderem mit Collagen aus ihren Anfangsjahren, die bisher noch nie gezeigt wurden. Am 2. Mai eröffnet eine weitere Schau im Louisiana Museum of Modern Art in Dänemark. Und wie geht es weiter mit „To Place“? Auf diese Frage antwortet sie: „Mit jedem neuen Buch, das hinzukommt, scheint die Serie immer weniger vollständig zu werden. Ich brauche aber auch kein Ende. Wie es mit „To Place“ weitergeht, darüber will ich jetzt nicht spekulieren. Solange ich lebe, wird diese Buchreihe mich begleiten.“
Auf der isländischen Halbinsel Snæfellsnes kann das Museum „Library of Water“ besichtigt werden. Hier zeigt Roni Horn in einer Dauerausstellung Wasser, das von Gletschern der Insel gesammelt wurde
Fast 30 Bücher hat Roni Horn mit dem Verleger Gerhard Steidl veröffentlicht. Kürzlich neu aufgelegt wurde eines der Lieblingsbücher der Künstlerin, „Weather Reports You“, das von Wettererlebnissen erzählt.