Interview mit Albert Serra

„Pacifiction“ und die Kunst des Desasters

Der neueste Film von Albert Serra gilt schon jetzt als Meisterwerk. Heute kommt seine Südsee-Fantasie in Deutschland in die Kinos

Von Catherine Peter
02.02.2023

Schwer zu sagen, weil ich mir eigentlich vorher nichts vorstelle. Wenn ich das Drehbuch schreibe, ist es für mich wie eine literarische Übung. Klar entstehen dabei Bilder, aber keine, die ich dann unbedingt auch verwirklichen möchte. Erst wenn das Ensemble am Drehort ist, verstehe ich ungefähr, was für Bilder es womöglich geben wird. Eigentlich ist es beim Schreiben des Drehbuchs nur wichtig, eine Person im Kopf zu haben. Das gibt Inspiration, sonst ist man blind. Die Figur von De Roller habe ich mit Benoît Magimel im Kopf geschrieben. Ich will einen guten Film machen, und nicht einen, der wie mein Drehbuch aussieht. Da gibt es von mir keine Vorteilnahme zugunsten meines eigenen Drehbuchs. Es ist die endgültige Qualität des Films, die zählt.

Das klingt so, als entwickle sich der Film ziemlich frei von der ersten Idee bis zum fertigen Schnitt?

Es gibt eben zwei, drei Hauptthemen, aber ich brauche eine totale Freiheit während der Entstehung des Filmes. Am ersten Tag hatte ich eine Hauptdarstellerin, die wieder verschwand, ihr Ersatz kam erst am zwölften Tag. Manche Dinge kosten viel Zeit, anderes passiert wie von selbst, ich weiß nie, welche Richtung ein Dreh nehmen wird. Ich nehme bei der Produktion alle Formen von Desaster an und richte mich danach. Ich bin sehr biegsam, was das angeht. Es sind letztlich die Leute vor der Kamera, die dann entscheiden, wohin der Film geht.

Sind Sie dann manchmal selbst von Ihrem eigenen Film überrascht?

Albert Serra
„Ich nehme bei der Produktion alle Formen von Desaster an und richte mich danach“, sagt Albert Serra im Interview. © Foto: Catherine Peter

Ich versuche einen Film zu drehen. Und das ist das, was Spaß dabei macht: überrascht zu werden. Während des Drehs versuche ich auch immer, das Publikum meines eigenen Films zu sein. Und schließlich ist es ja auch die Arbeit der Schauspieler, mich zu überraschen. Wenn sie nur das machen würden, was ich schon kenne oder was ich im Kopf habe, wäre es uninteressant. Sonst wäre ich selbst Schauspieler. Es ist die Vermittlung zwischen dem, was ich im Kopf habe, und einer anderen Person, die das Ganze komplex werden lässt. Ich arbeite wirklich sehr intensiv mit dem Cast und dem Druck, der Anspannung, die vor Ort entsteht. Wenn am Ende der Film nah am Drehbuch ist, schön, wenn nicht, auch gut. Für mich hat es beim Dreh eigentlich keinen Wert. Die Schauspieler lesen es eh nicht, vielleicht das Produktionsteam, um die Drehorte vorzubereiten. Wichtig ist es nur als eine Stufe im gesamten Entwicklungsprozess, auch was die Finanzierung eines solchen Projekts angeht. 

Optisch ist der Film sehr eindrucksvoll. Man ist sofort von den Bildern eingefangen und einem echten Erlebnis ausgesetzt. War es Ihr ursprünglicher Wunsch, diese immersive Wirkung beim Publikum zu erzeugen?

Es gab eine große Menge an eindrucksvollen natürlichen Bildern, die uns dieser besondere Drehort geboten hat. Um den Eindruck eines dahintreibenden Abenteuers zu haben, wollten wir so viele wie möglich davon verwenden. Dazu haben wir mit ganz kleinen Kameras, Blackmagic Pocket Cinema Kameras mit Zoomobjektiven, auf 4K gedreht, mit der Idee, es im Nachhinein auf Film aufzublasen. All diese technischen Aspekte haben wir im Vorfeld festgelegt, damit die Kameramänner während des Drehs ganz frei arbeiten konnten.

Pacifiction Cécile Guilbert Pahoa Mahagafanau
Die Schauspielerinnen Cécile Guilbert und Pahoa Mahagafanau in Albert Serras Spielfilm. © Filmgalerie 451

Und die Szene auf dem Boot in den Wellen …

Das war nicht einfach, sogar ziemlich chaotisch. Wir hatten drei Kameras dabei, die waren nicht so glücklich auf dem schwankenden Boot. Wir haben etwa zwei Stunden gedreht, hatten dann die Nase voll, sind wieder an Land und haben was anderes gemacht.

Das Spiel der Darstellerinnen und Darsteller untereinander hat etwas kühl Distanziertes, das ganz selbstverständlich und natürlich wirkt. Wie kann man sich Dreharbeiten mit Ihnen vorstellen?

Ich mag keine klare Abgrenzung zwischen Fiktion und Realität und sehe keinen Unterschied zwischen dem Moment, in dem wir drehen oder nicht drehen. Ich arbeite immer mit Schauspielern. Das ist das Wichtigste für mich. Der Schauspieler ist verletzlich in seinem Schwanken zwischen spielen und nicht spielen. Wir drehen immer Variationen, verändern die Einstellungen, die Schauspielerinnen und Schauspieler versuchen andere Dialoge, in veränderten Konstellationen. Oder zum Beispiel so, dass ich sage: erinnerst du dich an das, was wir vor zwei Tagen da und da gemacht haben, probiere es jetzt. Es geschieht immer etwas Unvorhersehbares. Ich versuche, am Set eine Gesamtstimmung zu schaffen, die dieses Unberechenbare passieren lassen kann. Mein ganzes System ist darauf eingestellt. Da muss ich niemandem etwas erklären, weil ich die unbedingte Intuition habe, dass es für den Film das Beste ist.

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