Vor zwei Jahren gründete der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama in Tamale ein neues Kunstzentrum. Das Red Clay Studio ist weit mehr als nur ein Museum – hier werden die großen Fragen der globalisierten Welt verhandelt
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30.08.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 203
Hier ist der Nabel der Welt. Tamale im Norden von Ghana, 600 Kilometer von der Hauptstadt Accra entfernt, liegt an der Kreuzung dreier alter Handelsstraßen. Sie durchqueren den afrikanischen Kontinent von Süden nach Norden und von Westen nach Osten. Salz, Gold, versklavte Menschen, Pilger, Tiere strömen seit Tausenden von Jahren über diese Straßen. Heute fahren dort riesige Lastwagen. Als Fußgängerin fühlt man sich an dieser Kreuzung wie im antiken Heiligtum von Delphi: Um den Mittelpunkt der Welt zu bestimmen, schickte Zeus von den beiden Weltenenden je einen Adler los. Wo sie sich in der Mitte trafen, markierte man die Stelle mit einem netzumwundenen Nabel aus Marmor, das Omphalos von Delphi. An der Kreuzung in Tamale liegt heute freilich keine Tempelanlage. Hier markieren vielmehr vier Geldinstitute, der Zentralmarkt, eine Bibliothek, zwei Busstationen, eine große Moschee, sehr viele Menschen, Autos, Motorräder und einige frei laufende Ziegen den Mittelpunkt der globalisierten Welt. Geld, Wagen,Wissen, Waren – und wir mittendrin. Besser lässt sich das Gefühl nicht beschreiben, das einen in dieser Stadt packt.
Vor fünfunddreißig Jahren kam hier einer der heutigen Künstlerstars seiner Generation zur Welt: Ibrahim Mahama. Wie viele ghanaische Künstlerinnen, Künstler und Intellektuelle seit der Unabhängigkeit des Landes studierte er als junger Mann an der KNUST in Kumasi, der Kwame Nkrumah University of Science and Technology, einem hoch entwickelten Inkubator für künstlerische Talente im Herzen der legendären Ashanti-Region. An der KNUST wird Kunst seit zwanzig Jahren als eine Form politischer Guerilla verstanden und unterrichtet, eine kraftvolle Mischung aus philosophischer Bildung, dekolonialisiertem Denken und gesellschaftlichem Bewusstsein, verbunden mit dem kritischen Hinterfragen von Materialien, Architekturen und Ausstellungsformen. Mahamas internationaler Durchbruch kam 2015 mit Okwui Enwezors Einladung zur 56. Biennale in Venedig. Er installierte im Arsenal „Out of Bounds“, eine Haut aus zusammengenähten alten Transportsäcken an den hohen Wänden eines schmalen Ganges. Darauf folgte 2017 eine Einladung nach Kassel zur Documenta 14 und die Verhüllung der beiden Gebäudeteile von Heinrich Christoph Jussows Torwache mit Jutesäcken. Wie erfolgreich sich Ibrahim Mahama in der Kunstwelt des globalen Nordens etabliert hat, zeigt auch die Tatsache, dass er von der Galerie White Cube in London vertreten wird.
Auf dem afrikanischen Kontinent ist Mahama im Begriff, die Idee des Museums radikal neu zu denken. Er kaufte Land und ließ darauf Hallen errichten, die allen zugänglich sein sollen. „Hier sind Kunstwerke zu sehen. Das Gebäude drumherum ist ein Kunstwerk, und das Gespräch, das wir in diesem Gebäude führen, ist auch Teil des Kunstwerkes. Seid euch darüber im Klaren, und konzentriert euch!“ Sanft, aber bestimmt spricht Mashud Abdul Hamid, ein Mitarbeiter Mahamas, zu einer kleinen Bande zerstreuter Jugendlicher im Garten des Red Clay Studio. Sie sind gekommen, weil man von der Straße etwas nördlich von Tamale sechs große weiße Flugzeuge mitten in der flachen Landschaft sehen kann, ausgediente Privatjets und kleine Linienmaschinen, die Mahama mit viel Aufwand hat hierherbringen und in Klassenräume umwandeln ließ. Eine 25 Jahre alte British Aerospace 146-300, die unter anderem für KLM, Air France, Eurowings und zuletzt die ghanaische Fluglinie Starbow im Einsatz war, steht dort; auch eine kleine Antonov AN-2 aus Sowjetzeiten, später in Litauen umgerüstet und im Allgäuer Airport Memmingen gemeldet. Es geht eine große Faszination von diesen global gestrandeten Albatrossen auf der roten Erde im Garten von Red Clay aus. Für die meisten aus der Gegend ist es die erste Begegnung mit Flugzeugen überhaupt. Die Teenager steigen kichernd in die Starbow. Sie machen Selfies drinnen, darauf, darunter, davor, klopfen coole Sprüche und hören Mashud Abdul Hamid kaum zu. Es dauert eine Weile, bis er sie für den Genius Loci begeistern kann, doch irgendwann gelingt es.
Red Clay Studio ist Mahamas jüngste künstlerische und politische Geste. Es wurde im September 2020 eröffnet, ein Jahr nach der Einweihung des ebenfalls eindrucksvollen und für alle offenen Savannah Centre for Contemporary Art (SCCA) im Herzen von Tamale. Der Künstler positioniert sich mit einem hohen theoretischen Anspruch in der globalen Museumslandschaft, Red Clay ist ein edler Tempel aus rotem Backstein auf dem grünen Land, so eindrucksvoll wie einst das Apollo-Heiligtum in Delphi. Es soll als Archiv unserer Zeit und Zukunft dienen, als Materialdepot, Ort der Volksvertretung und Kunsthalle, gerichtet an alle von den kleinen Kindern aus der Nachbarschule bis hin zu weit gereisten Kennerinnen und Kennern der zeitgenössischen Kunstszene, die bei den verlassenen Flugzeugen womöglich an Anselm Kiefers Bleiflugzeuge denken müssen. Gedacht, designt, gebaut und finanziert hat Ibrahim Mahama Red Clay selbst.