Vor zwei Jahren gründete der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama in Tamale ein neues Kunstzentrum. Das Red Clay Studio ist weit mehr als nur ein Museum – hier werden die großen Fragen der globalisierten Welt verhandelt
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30.08.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 203
Die Männer und Frauen, die hier arbeiten und tagtäglich dem Publikum Kunstwerke und Konzepte erklären, sind selbst Künstlerinnen und Künstler. Benjamin Okantey gehört zu ihnen. Auch er hat am KNUST studiert und promoviert derzeit dort. Er beschreibt die Arbeit im Red Clay Studio als eine Form der sozialen Verantwortung. Während er erklärt, wie die alten Dinge, nicht nur die Flieger, sondern ganze Schuleinrichtungen oder von Mahama aufgekauftes Inventar von Eisenbahnfabriken, auf Verwertung warten, untermauert er seine Ausführungen mit Zitaten von Michel Foucault, Immanuel Kant und Kwame Nkrumah, dem ersten Präsidenten Ghanas. Krisenzeiten würden daran erinnern, auf wessen Rücken unsere Wirklichkeit errichtet sei.
Mahamas eigene Werke entfalten in Ghana eine Kraft, die trotz aller Wucht in Europa nicht erlebbar ist. Da gibt es etwa „Non-Orientable Nkansa“. Das überwältigende, aus mehreren Hundert gebrauchten Schuhputzerkästen zusammengesetzte Monument wurde bereits in Teilen 2017 auf der Art Basel und in London gezeigt. Im Red Clay Studio erhebt es sich gleich in der ersten Halle in einer über sechs Meter hohen und fünfzehn Meter langen Ausführung. Jeder einzelne selbst gefertigte, mehrfach reparierte und markierte Holzkasten ist in Form und Ästhetik durch seine Geschichte, Zirkulation und seinen Gebrauch geprägt, ein Monument der „uns mitwissenden Dinge“, wie Rainer Maria Rilke, hätte er Red Clay besucht, es formuliert hätte. Anders als in Basel und London gehören im Ghana von heute diese Kästen zum Alltag, nicht zu trennen von der Präsenz und Gestalt der Menschen, die sie bauen, nutzen, tragen und weitergeben. Den mittlerweile aufmerksamen Teenagern erklärt Mashud Abdul Hamid, dass die Monumentalität von Mahamas Werk dazu diene, sich diese unscheinbaren, armen Holzkästen für immer einzuprägen und ihnen auch im Alltag Aufmerksamkeit zu schenken.
Überhaupt geht es hier viel um die Vermittlung eines Bewusstseins für die Archäologie der Gegenwart und des 20. Jahrhunderts, der Geopoetik von Rost und Ruinen. Im Archivraum werden, frei zugänglich, große Industriefotos in Schubladen aufbewahrt; Blaupausen von technischen Zeichnungen aus einer verlassenen ghanaischen Eisenbahnfabrik mit deutsch-englischen Beschriftungen des „VEB Görlitz“ aus dem Jahr 1987; vergilbte Gesetzesbücher; Mahamas eigene Notizhefte aus den vergangenen Jahren; traditionelle Stoffe; ausgediente Öllampen; getrocknete Tierreste, die Jäger in der Gegend auf dem Kopf tragen, bevor sie aufbrechen, um das Jägerglück zu ihren Gunsten zu wenden. Im selben Raum ist ein Propeller aufgestellt, den man in Gang setzen kann, um physische Windkräfte zu erklären. Eine Halle weiter stehen Dutzende ramponierter Industriewaagen. Schulbänke, Flugzeugsitze, Zementsäcke warten in anderen Höfen auf Witterung und Verwendung.
Die Restitutionsdebatte, das Gespräch über die Rückkehr alter afrikanischer Kulturgüter, die während der Kolonialzeit nach Europa verschleppt wurden, eine Debatte, die in Ghanas Nachbarländern wie Nigeria und Benin mit Leidenschaft geführt wird, werde hier von einigen als bevormundend empfunden, sagt Benjamin Okantey. Nicht in erster Linie, weil die Debatte aus Europa komme, wie er ausführt, sondern weil die Werke, um die es gehe, und die Museen, die dafür gebaut werden sollen, ein Projekt der politischen Elite seien. Im scharfen Kontrast dazu will Red Clay ein erweitertes historisches, museologisches und politisches Bewusstsein schaffen und pflegen, das jede und jeder mit den Händen fassen und mit dem Geist vergrößern kann. Dennoch mag man sich allzu gern vorstellen, wie neben den gestrandeten Fliegern einige Schatzhäuser stehen könnten mit all den Kostbarkeiten aus massivem Gold, die einst als koloniale Kriegstrophäen vom aktuellen Ghana nach Europa gingen.
Im Herzen des Red Clay Studio wartet „The Parliament of Ghosts“, ein zugleich antik und industriell anmutender, hoher, strenger, lichter, dachloser, imponierender Raum, mit Galerien in sechs Meter Höhe und einem Auffangbecken für Regenwasser in der Mitte: „Pool of Ideas: literally“ hielt Mahama während des Baus in einem seiner Notizbücher fest. Vier Stufen wie in einem Atrium führen zum Becken hinunter. „Was haben Geister und Krisen gemeinsam? Können gescheiterte Revolutionen uns dazu bringen, die Krise als ein Material zu betrachten, um neue Formen für das 21. Jahrhundert zu erschaffen? Ist es möglich, sich eine Zukunft vorzustellen, die Tod und Verfall als Ausgangspunkt nimmt?“ Diese Fragen stellte Mahama wenige Monate vor Eröffnung von Red Clay. Im antiken Delphi hätte das Orakel geantwortet. In Mahamas Red Clay in Tamale wird kollektiv an den Antworten gearbeitet.
„Ibrahim Mahama. Purple Hibiscus“
Barbican arts centre, London
bis 18. August 2024