Kunstwissen

Raffael: Götter zum Anfassen

Vor 500 Jahren starb Raffael, der im Dienst der Päpste die christliche Bildwelt mit Leben und antiker Größe erfüllte. Über Jahrhunderte erfuhr er kultische Verehrung wie kein zweiter Künstler. Bis die Moderne kam

Von Sebastian Preuss
06.04.2020

Als die „Sixtinische Madonna“ am 1. März 1754 in Dresden eintraf, stieg der sächsische Kurfürst und König Polens vom Thron. Zwei Jahre lang hatte August III. mit den Mönchen von San Sisto in Piacenza über den Kauf von Raffaels monumentalem Altarbild verhandeln lassen, sich sogar um die Zustimmung des Papstes und des Herzogs von Parma bemühen müssen, eher er das Gemälde empfangen konnte. Der Kaufpreis von 25 000 Scudi war damals ungeheuerlich für ein einziges Kunstwerk, aber nie wurde diese Investition in Dresden bereut, denn sie hat die Gemäldesammlung weltberühmt gemacht. Zur Begrüßung ließ August III. die Madonna, die in eher menschlicher als überirdischer Erscheinung auf den Wolken schwebt und von den beiden Engelchen am unteren Bildrand träumerisch beobachtet wird, ins Zentrum seines Staatssaals stellen. „Platz für den großen Raffael!“, soll er gerufen haben, ehe er eigenhändig den Thron zur Seite rückte. Ein Akt, so theatralisch wie das Bild selbst, auf dem die Marienvision von einem Vorhang gerahmt ist, der sich für das himmlische Schauspiel öffnet.

Könige, Päpste, die gelehrten Kunstautoren von der Renaissance bis zur Romantik, die bedeutendsten Künstler und Geistesgrößen: Alle bewunderten sie Raffael als Gipfelpunkt der nachantiken Malerei, als einen, der für alle Zeiten ein klassisches Ideal gefunden hatte, der das Altertum wieder zum Leben erweckt und noch dazu das Kunststück vollbrachte hatte, die heidnische Welt der Griechen und Römer mit dem christlichen Glauben zu versöhnen. Raffael war eine übermenschliche Instanz, ein Künstler, der schon in seiner Epoche göttergleich verehrt wurde. Die Schriften aus seiner Zeit über­liefern von ihm alle denkbar guten Eigenschaften: jung und schön, edel und mit besten Manieren ausgestattet, liebenswürdig und großzügig, wissbegierig und humanistisch gebildet. Da störte es selbst die Kleriker nicht, dass er neben der platonischen auch der körperlichen Liebe hingebungsvoll gefrönt haben soll. Immerhin erstand daraus – soweit diese Deutung überhaupt der Quellenprüfung standhält – das zärtliche Porträt der geheimnisvollen Geliebten, der „Fornarina“, zu sehen auf dem Titelbild dieser Ausgabe.

Legendenbildung

Die moderne Forschung hat bei Raffaels notorisch kolportierten erotischen Obsessionen ihre Zweifel, denn so viele Legenden und Anekdoten ranken sich um ihn, dass Dichtung und Wahrheit kaum noch voneinander zu scheiden sind. Jahrhundertelang beflügelte sein Leben die Fantasie von Schriftstellern, Malern und Grafikern. Die innige Umarmung Raffaels mit der angeblichen Geliebten Fornarina in seinem Atelier, ein Kabinettstück des Klassizisten Ingres von 1814, ist nur eines von zahllosen Beispielen. Bis in die Details wurde die Biografie des Künstleridols nachgedichtet und bebildert. Dabei weiß man, im Gegensatz zu Leonardo und Michelangelo, sehr wenig über das private Leben Raffaels. Aber trotz aller Mythen und Stilisierungen ist hinlänglich bezeugt, wie er schon zu seinen Lebzeiten die Menschen enorm durch seine Kunst wie durch seine Persönlichkeit in den Bann zog. 

Raffael, Madonna im Grünen, 1505 0der 1506, Kunsthistorisches Museums Wien, Abbildung: KHM-Museumsverband
Raffael, Madonna im Grünen, 1505 0der 1506, Kunsthistorisches Museums Wien, Abbildung: KHM-Museumsverband

Ganz Rom trauerte, als er am 6. April 1520 starb. Es war sein 37. Geburtstag. Der Künstlerbiograf Vasari hat seine „maßlosen Liebesfreuden“ für den Ausbruch des tödlichen Fiebers verantwortlich gemacht, eine Vermutung, die Raffael bis heute nachhängt – es kann genauso gut Malaria oder eine andere Infektion gewesen sein. Wie auch immer, ob Sextod oder nicht, besonders im Vatikan, wo der Künstler in zwölf Jahren und unter zwei Päpsten der Kirche eine neuartige, überwältigende Bildwelt, einige Bauprojekte und einen modernen Blick auf die Antike eingebracht hatte, verfiel man in Schockstarre. Der Heilige Vater persönlich, Leo X. aus der Medici-Dynastie, soll den Künstler in den zwei Wochen seines Fiebers sechsmal am Krankenbett besucht haben.

Gottgleicher Malerstar

Nun herrschte im Zentrum der Christenheit größter Kummer „über den Verlust der Hoffnung auf die allergrößten Dinge, die man sich von ihm erwartete und die diesem Zeitalter zur Ehre gereicht hätten“, wie der Mantuaner Gesandte Pandolfo Pico della Mirandola am Ostersonntag an die Kunstmäzenin Isabella d’Este schrieb. Wie Christus war Raffael am Karfreitag gestorben, und schon der unmittelbare Zeitzeuge Pico beteiligte sich an der religiösen Verklärung des Künstlers: „Mit diesem Tod wollte der Himmel eines der Zeichen setzen, das er beim Tod Christi gab. So öffnete sich der Palast des Papstes in solcher Weise, dass er zu zerfallen drohte und seine Heiligkeit in Angst aus seinen Gemächern floh.“ Ein Mauerriss wurde zum göttlichen Fingerzeig, um den Künstler in Analogie zum Heiland zu setzen. Ein poetisches Epigramm aus dem Todesjahr wird noch deutlicher: „Was Wunder, dass du das Licht verlorest wie Christus. Jener ist der Gott der Natur, du warst jener der Kunst.“

Kein Wunder, dass diese Verklärung als Zentralgestirn der europäischen Malerei, die in den Akademien des 17. und 18. Jahrhunderts ihre kunsttheoretische und praktische Kanonisierung erfuhr, in der Romantik zu einem kunstreligiösen Kult um den Maler führte. Gerade in Deutschland – wo der „Sixtinischen Madonna“ als erster moderner Popikone so glühende Verehrung zuteil wurde, dass sie bald massenhaft in den Schlafzimmern hing – trieb der Raffael-Kult üppige Blüten. Eine ganze Kunstbewegung, die Nazarener, nahm ihn sich zum glühend verehrten Vorbild; in Scharen pilgerten die Maler auf seinen Spuren in den Süden.

Fortleben in Kopien und Biographien

Mit seinen zarten, liebreizenden Madonnen und seinen vom Leben durchpulsten Porträts, mit bewegten Figurenszenen, die den Barock vorbereiteten, den überwältigenden Fresken im antikischen Stil und den immer raffinierter komponierten Altarbildern bis zum letzten genialen Meisterwerk, der „Transfiguration“, mit all dem war Raffael für Jahrhunderte der Klassiker schlechthin in der neuzeitlichen Kunst. Noch fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch beherrschte er überall in Europa und Amerika die akademische Malerei. Den preußischen Königen war er so lieb und teuer, dass sie zwischen 1804 und 1865 fünfzig seiner wichtigsten Werke als Kopien bestellten und im Potsdamer Orangerieschloss einen prächtigen Bildersaal zu seiner Huldigung einrichteten. Im Gepäck hatten die Verehrer über alle Epochen hinweg die Biografie von Giorgio Vasari. Der Pionier der Kunstgeschichtsschreibung widmete in seinen 1550 und 1568 in revidierter Ausgabe erschienenen „Lebensläufen der hervorragendsten Künstler“ Raffael eine besonders ausführliche Darstellung. Er war gut informiert, denn viele Schüler und andere Zeitgenossen des Künstlers lebten bei der Niederschrift noch. Trotzdem hat Vasari viel hinzuerfunden oder tendenziös ausgemalt. Da Raffael nur wenige Briefe und ein paar Gedichte, ansonsten keine Aussagen zu sich selbst und seiner Kunst hinterlassen hat, kann man sich ihm ohne Vasari kaum nähern. So prägt er bis heute unser Bild.

Neuere Forschung macht Kontexte auf

Ulrich Pfisterer, der Raffael zum Jubiläumsjahr eine kluge und opulent bebilderte Monografie gewidmet hat (erschienen bei C. H. Beck), nennt es das „Vasari-Problem“. Auch er kann ihm nicht entgehen, wie er einräumt, aber er arbeitet dagegen an, zeigt auf, was unbewiesen und wo der Biograf unzuverlässig ist. Pfisterer breitet einen großen, quellen- und forschungsgesättigten Zeitkontext aus, in den er Raffael und sein Schaffen einbettet. Bei seinen Werkanalysen holt er weit aus, um das intellektuelle Klima im humanistischen Rom zu beleuchten, in dem die Bilder entstanden. Vor allem kann er mit vielen neuen Details zeigen, wie zielstrebig Raffael seine Karriere vorantrieb und an seinem Ruhm arbeitete. Wenn man jedoch wissen will, was diesen Künstler, der so viel Nachwirkung gehabt hat wie kaum ein zweiter, angetrieben und bewegt hat, dann sagt seine Kunst immer noch am allermeisten aus.

Raffaels Kindheit und Ausbildung

Raffael da Urbino, wie sich der Künstler nannte, kam als Raffaello Santi (auch Sanzio) am 6. April 1483 im Städtchen Urbino in den weichen Hügeln der Marken zur Welt. Sein Vater Giovanni Santi war Maler und betrieb eine florierende Werkstatt. Er bewegte sich am herzoglichen Hof, der unter dem 1482 gestorbenen Federico da Montefeltro eine Wiege des Humanismus und der Renaissancekultur war. Auch dessen Nachfolger Guidobaldo förderte Kunst, Literatur und Gelehrsamkeit. In diesem Umfeld erhielt Raffael eine gute Bildung und erlernte die Manieren, mit der man sich an einem Renaissancehof bewegte. Als er acht war, starb seine Mutter Magia Ciarla, drei Jahre später der Vater.

Selbstbildnis Raffaels mit etwa 23 Jahren, Tempera auf Holz, Uffizien, Florenz, Abbildung: Galleria degli Uffizi, Florenz
Selbstbildnis Raffaels mit etwa 23 Jahren, Tempera auf Holz, Uffizien, Florenz, Abbildung: Galleria degli Uffizi, Florenz

Mit elf war Raffael also Vollwaise. Seine Verwandten kümmerten sich um ihn, und um die geerbte Werkstatt kümmerten sich vorerst Giovannis Mitarbeiter. Der Vater hatte noch zu Lebzeiten Pietro Perugino, den erfolgreichen Maler im umbrischen Perugia, gebeten, seinen Sohn als Lehrling aufzunehmen. Über die genauen Umstände von Raffaels Ausbildung bei Perugino ist nichts bekannt, aber seine frühen Bilder sprechen eindeutig die Sprache des Meisters. Mit erst 17 Jahren malte Raffael ein Altarbild in der kleinen Stadt Città di Castello. Rasch folgten weitere Aufträge, die er in Peruginos etwas statuarischem, aber fein moduliertem Figurenstil ausführte. Die Gesichter sind zart und lieblich, die Farben leuchtend, und die Landschaften im Hintergrund sind deutlich beeinflusst von der atmosphärischen Tiefenräumlichkeit der gerade in Mittelitalien hochgeschätzten Niederländer wie Rogier van der Weyden und Hans Memling.

Stilistische Entwicklung

Schon bald entstanden die ersten Madonnen, zum Kind und häufig auch zum kleinen Johannes dem Täufer herabgebeugt, die Gesichter anmutig und weich, entrückt und zugleich erfüllt von mütterlichem Gefühl. Ein Lebensthema Raffaels, das er in allen Phasen seiner zwanzigjährigen Schaffenszeit weiterverfolgte. Es ist aufregend zu beobachten, wie schnell sich der junge Maler von Werk zu Werk entwickelte. Der Einfluss Peruginos blieb prägend, aber Raffael emanzipierte sich, indem er die Figurengruppen auflockerte, die Körper in Bewegung brachte, den Physiognomien Leben einhauchte. In der „Pala Oddi“, einer Marienkrönung in raffiniert zweigeteilter Komposition, tritt ein eigener „Raffael-Stil“ um 1504 zum ersten Mal meisterlich in Erscheinung. Verklärt und doch von Gefühlen beseelt, die den Betrachter unmittelbar berühren, blicken äußerst realistisch gestaltete Apostel zur Himmelskönigin hinauf.

In dieser Zeit entstand die kleine Tafel „Der Traum des Ritters“, Raffaels erstes Bild mit einem antik-profanen Thema. Wie von Cicero beschrieben, erscheinen dem jungen Scipio Africanus die beiden Göttinnen Minerva und Venus. Es ist eine akribische und realistische Feinmalerei, die das Studium von niederländischer Malerei verrät. Man weiß nicht, ob Raffael das Täfelchen schon in Florenz malte. Jedenfalls ging er 1504 in das brodelnde Kunstzentrum, um weiter voranzukommen. Er war ehrgeizig und wollte ganz nach oben. Dafür gab es nur einen Weg, er musste von den bedeutendsten Künstler lernen: von Leonardo und Michelangelo. Die beiden Künstlerstars lieferten sich damals in Florenz das aufregendste Duell der Kunstgeschichte. Im großen Saal des Palazzo Vecchio, dem Sitz der Stadtregierung, sollte jeder eine Wand mit einem Schlachtenbild bemalen. Das Projekt scheiterte am schwierigen Naturell und der Ungeduld der Kontrahenten, und so sind beide Entwürfe nur als Zeichnungen überliefert. Doch Raffael hatte ausreichend Gelegenheit zum Studium.

Von Vorbildern gelernt 

In Zeichnungen kopierte er die expressive Gestik Leonardos, beobachtete die rätselhaft beseelten Gesichter und das Sfumato, das samtige Modulieren aller Formen. Raffaels erste Auftragsporträts, die er in Florenz malte, greifen die Komposition und die Haltung der „Mona Lisa“ auf, an der Leonardo gerade arbeitete. Deren Entrücktheit verwandelte Raffael bei seiner „Dame mit dem Einhorn“ in eine hell aufleuchtende, junge Frau, die mit fragenden Augen in die Welt blickt und stolz ihre Sinnlichkeit präsentiert. Sie ist nicht fern und ortlos wie die „Gioconda“, sondern ganz im Hier und Jetzt. Auch die Marienbilder dieser Zeit wie die wunderbare „Madonna im Grünen“ blühen koloristisch, körperlich und emotional auf und verbinden die göttliche Sphäre in berührender Weise mit einem diesseitigen Menschenbild. Bei Michelangelo inspirierten Raffael vor allem die athletische Körperlichkeit, die perspektivischen Verkürzungen der muskulösen Leiber und ihr dramatisches Verknäueln. Er selbst realisierte so etwas 1507 erstmals bei seiner „Grablegung Christi“ (meist „Pala Baglioni“ genannt) in einer komplizierten Figurenkomposition und Gesichtern, die vom Geschehen aufgewühlt sind.

Weiterentwicklung in Rom

Papst Julius II., Machtpolitiker, Feldherr und Kunstförderer, der mit dem neuen Petersdom, dem Deckenbild der Sixtinischen Kapelle und der Ausmalung seiner Gemächer im Vatikanpalast drei Großprojekte auf den Weg brachte, entging nicht, welch ein Talent sich in Urbino und Florenz entwickelt hatte. Der Pontifex holte Raffael nach Rom, und dieser eroberte sich in kurzer Zeit die päpstliche Gunst und die wachsende Bewunderung in der Kunst- und Geisteswelt der Ewigen Stadt. Die Privaträume des Papstes, die Stanzen, verwandelte er mit Monumentalfresken zu einer Wunderwelt, in der er völlig neuartige Formen der Historienmalerei entwickelte. In der „Schule von Athen“ und dem „Parnass“ führte er, im Epizentrum der Christenheit, die Größe der antiken Welt vor. Tiefenräumliche Panoramen sind bevölkert von individuellen Persönlichkeiten, die Bildgeschichten erzählen sich quasi von selbst in einer Massenregie wie von den besten Hollywood-Regisseuren. Bilderdramen wie der „Borgobrand“ führen Einzelschicksale und die nackte Not der Menschen vor, um das große Ganze zu erklären. Die Farbe wird immer schöner, der Mensch immer sinnlicher. In der Villa Farnesina verdreht die „Galatea“, die Raffael für den schwerreichen Agostino Chigi ausgestaltete, bis heute den Menschen den Kopf – Truman Capote fühlte sich nicht ohne Grund an Marilyn Monroe erinnert.

Raffael, Predigt von Johannes dem Täufer, 1505, Öl auf Pappel, Abbildung: © The National Gallery, London
Raffael, Predigt von Johannes dem Täufer, 1505, Öl auf Pappel, Abbildung: © The National Gallery, London

Und Raffael entwickelt sich immer weiter. Als 1511 die erste Hälfte von Michelangelos Deckenfresko in der Sixtina enthüllt wird, greift er dessen spektakuläre Figurendrehungen sofort auf und entwickelt sie für seine Zwecke weiter. „Raffael erwarb diese Kunst nicht aus der Natur, sondern durch langes Studium“, ätzte Michelangelo, der für ihn nur grimmigen Rivalenhass übrighatte. Aber genau das war Raffaels Stärke: der feinnervige Blick auf die Welt und die Kunst, jederzeit bereit, sich etwas anzueignen, neu zusammenzusetzen und daraus etwas völlig Innovatives zu schaffen. Im Grunde ein postmodernes Verfahren. Um die Großprojekte zu realisieren, baute Raffael einen effektiven Werkstattbetrieb auf und sammelte begabte Maler wie Giulio Romano, Gianfrancesco Penni oder Giovanni da Udine um sich, die er mit anspruchsvollen Aufgaben betreute, während er auf Zeichnungen die Bildprogramme und die Kompositionen entwarf.

Im August 1514 betraute Papst Leo X. den Maler, der sich immer mehr zum Universalkünstler entwickelte, mit der Bauleitung von St. Peter. Allzu viel ist, schon aus Geldmangel, unter Raffael auf der Riesenbaustelle nicht passiert. Ebenso Fragment blieb sein visionäres Projekt, in Rom die Reste der von ihm so bewunderten Antike zeichnerisch zu erfassen, um sie für die Zukunft zu erhalten und teilweise auch zu rekonstruieren. Gerade weil er – ganz im Gegensatz zu Leonardo und Michelangelo – viele an seinen Vorhaben teilhaben ließ, hinterließ er trotz seines vorzeitigen Todes ein gewaltiges, facettenreiches und tiefgründiges Werk, das die Kunsthistoriker noch lange beschäftigen wird.

Höhepunkt und Abkühlung der Verehrung

Die postume Verehrung um Raffael indes führte zu einem makabren Höhepunkt, als eine Kunstbruderschaft 1833 im Pantheon sein Grab öffnete und, verfolgt von der Weltpresse, das Skelett sechs Tage lang zur Schau stellte. Hans Christian Andersen ergatterte eine der 3000 Besucherkarten, und Goethe bestellte gleich mehrere Abgüsse des Schädels nach Weimar. Der Maler Ingres schaffte es sogar, Knochenpartikel mitzunehmen, die er fortan als heilige Reliquien hütete. Doch der Kult bröckelte mit der aufkommenden Moderne. Nun löste Leonardo mit der rätselhaften „Mona Lisa“ und seinen technischen und medizinischen Experimenten mehr Faszination aus, ebenso das einsame, grimmige Genie Michelangelo und dessen exaltierte Astral­leiber. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg der barocke Rabauke Caravaggio in die Trias der massenpopulären Altmeister auf. Alle drei waren übrigens homosexuell.

Für Raffael, der die Malerei über den Barock und den Klassizismus bis weit ins 19. Jahrhundert maßgeblich beeinflusste, bedeutete der Niedergang des Heiligenkults keinen Verlust. Im Gegenteil: Von ihren übersteigerten Emotionen befreit, hat die Forschung der letzten Jahrzehnte viel Spannendes zutage gebracht. Als intellektuellen Bilderfinder, als genialen Verarbeiter von Anregungen, als Ausstattungskünstler und frühen Denkmalpfleger, aber auch als effektiven Kunstunternehmer kennen wir Raffael heute viel besser als die Idealisten von einst. Die Schönheit seiner Bilder wird von all dem ohnehin nicht berührt. Sie braucht keinen Heiligen.

Service

Raffael Online

Anlässlich des 500. Todestages lädt die Hamburger Kunsthalle mit dem „Raffael Album“ zum Stöbern in der Online-Datenbank ein.

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Raffael, „Der wunderbare Fischzug“, Karton für die Tapisserien in der Sixtinischen Kapelle, 1515/16 (Auschnitt), Victoria & Albert Museum, London (Foto: Royal Collection Trust / © Her Majesty Queen Elizabeth II 2019 / Victoria & Albert Museum)

Dieser Beitrag erschien in

WELTKUNST Nr. 167/2020

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