Ingrid Hartlieb

„Riecht das nicht wunderbar?“

Die Holzskulpturen von Ingrid Hartlieb sind Blickfänger, die die Seele zum Schwingen bringen. Über eine Künstlerin, die seit nahezu 50 Jahren unbeirrbar ihren Weg geht und nun auf der art KARLSRUHE im neuen re:discover-Format gewürdigt wird.

Von Matthias Ehlert
22.02.2024

Einmal, so erzählt Ingrid Hartlieb, hätte ein Sammler auf einer Kunstmesse in Köln, ihre Holzskulptur „Psyche“ entdeckt. Der kleine, kompakte Rumpf scheint bei ihm sofort etwas ausgelöst zu haben. „Er hat es gesehen, genommen und ist mit beseeltem Blick von dannen gezogen.“ Was war der Auslöser für diese Zuneigung auf den ersten Blick? „Der hat seine eigene Psyche darin gesehen. Und hat die dann mit sich heimgetragen.“

Eine Anekdote nur, aber eine, die illustriert, welche Wirksamkeit und Identifikation Ingrid Hartliebs Arbeiten entfalten können. Die 79-jährige Bildhauerin schöpft ihre Kunst aus ihren ureigensten Erfahrungen. Aus all den unsichtbaren Vorgängen der Psyche, all den Zweifeln, Zwängen, Ängsten und Beklemmungen: Sie müssen raus und gestaltet werden. Dabei geht es der Künstlerin nicht um ihre subjektive Befindlichkeit, die heute von vielen so gern ausgestellt wird. Hartlieb wäre das zu wenig. Ihr geht es um Allgemeingültigkeit, um Symbolik und Zeichenhaftigkeit. Da ist sie ein Geisteskind der 1970er Jahre.

„Jede Idee, jede Form im Raum entwickelt sich bei mir aus der Zeichnung.“

Wir stehen an einem kühlen Wintertag in ihrem riesigen Atelier, einer ehemaligen Lagerhalle in Haigerloch, rund 70 Kilometer von Stuttgart entfernt. Seit rund 30 Jahren arbeitet Ingrid Hartlieb hier, wuchtet Holzklötze herum und schmeißt die Kettensäge an. Woher nimmt sie die Kraft? „Es ist einfach mein Leben. Wenn ich hier im Atelier sein kann, dann kribbelt es mich.“

Zeugnisse jahrzehntelanger Schaffenskraft: An ihren Großskulpturen arbeitet Ingrid Hartlieb in ihrem Atelier in Haigerloch. © Foto: Chiara Bellamoli
Zeugnisse jahrzehntelanger Schaffenskraft: An ihren Großskulpturen arbeitet Ingrid Hartlieb in ihrem Atelier in Haigerloch. © Foto: Chiara Bellamoli

Zu diesem „Leben“ kam sie über einen kleinen Umweg. Ursprünglich hat sie Chemotechnikerin gelernt, für Firmen galvanische Bäder untersucht. Doch der schöpferische Wille war auch damals schon kaum zu unterdrücken, verschmitzt zeigt sie mir ihr „allererstes Kunstwerk“ – eine Metallprobe, die sie mit der Feile in eine eigenständige Form verwandelt hat. Ermutigt von ihrem Mann, einem Kunsterzieher, bewirbt sie sich mit Ende Zwanzig an der Stuttgarter Kunstakademie und erhält sofort die Zulassung.

Von 1972 bis 1977 studiert sie dort und wechselt alsbald von der Zeichen- in die Bildhauerklasse, weil ihr „die Zweidimensionalität zu wenig Widerstand bot“. Ingrid Hartlieb ist generell jemand, der es sich bewusst nicht zu leicht machen will. „Bei den Bildhauern merkte ich vom ersten Tag an, dass ich mich auf ein total männliches Terrain vorgewagt hatte. Das führte nicht nur zu netten Kommentaren. Wenn ich zum Beispiel ein Stück von mir aus der Schreinerei abholen wollte und um Hilfe bat, bekam ich zu hören: Wieso machst du so große Sachen, wenn du sie nicht tragen kannst?“

Mehrere „Abstandhalter“ von Ingrid Hartlieb. © Foto: Chiara Bellamoli
Mehrere „Abstandhalter“ von Ingrid Hartlieb. © Foto: Chiara Bellamoli

Entmutigen lässt sie sich davon nicht. Gefördert von ihrem Professor, dem österreichischen Bildhauer Rudolf Hoflehner, reicht sie ihre dritte Skulptur 1975 beim Forum Junger Kunst ein und wird prompt von der Kunsthalle Mannheim angekauft. Eine frühe Auszeichnung, die Mut macht, die sie darin bestärkt, ihren künstlerischen Weg konsequent weiterzugehen.

Das Material ihrer Wahl wird Holz. Auch das eine sehr unabhängige Entscheidung: „Kein Mensch wollte damals Holzskulpturen machen.“ Aber sie liebt dieses Material, seine Lebendigkeit, seine Vielfalt, seine Wärme. Sie führt mich zu einem ihrer Holzobjekte, berührt mit den Fingern die verschiedenen Schichten: „Jedes Stück, das ich hier zusammenleime, ist aus einer anderen Holzart. Hier das Rötliche, das ist Lärche, das da ist Eiche und hier ist Buche. Diese differenzierte Farbigkeit ist einfach wunderbar. Und riechen tut es auch gut, finden Sie nicht?“

„In den letzten Jahren fühle ich mich gar nicht mehr wahrgenommen.“

Dicke Bohlen, Balken, Bretter, Kanthölzer, die sie sich aus dem Sägewerk holt, verarbeitet Ingrid Hartlieb zu ihren Skulpturen. „Ich stelle mich in den Raum und fange mit der Basis an. Und dann wächst die langsam, Schicht für Schicht. Ich warte bis der Leim trocken ist, anschließend wird geglättet und gehobelt und wieder die Kettensäge angesetzt.“ Was sich anhört wie die Arbeitsschritte in einer Tischlerei, folgt einem präzisen künstlerischen Programm: „Alles entwickelt sich bei mir aus der Zeichnung“, erläutert sie, „Bis sich eine Idee so klärt, dass wirklich eine plastische Form herauskommt, ist es ein langer Prozess.“

Später wird sie mir noch ihre Zeichenbücher zeigen, dicke Kladden, in denen der spontane Strich regiert. Einige von ihnen gehören inzwischen der Staatsgalerie Stuttgart, zu Recht, wirken sie doch wie ganz eigenständige Kunstobjekte, in denen vieles schon angelegt ist. Zum Beispiel der „Stammbaum“, den sie gerade in der Mache hat. Eine Hommage an den Baum, die 2024 auf der 9. Schweizerischen Triennale der Skulptur in Bad Ragaz zu sehen sein wird. Gesägtes Material wird wieder zurückgeführt in die runde Form – eine artifizielle Spielerei mit Tiefgang.

Die Skizzenbücher von Ingrid Hartlieb, von denen einige in der Staatsgalerie Stuttgart zu finden sind. © Foto: Chiara Bellamoli
Die Skizzenbücher von Ingrid Hartlieb, von denen einige in der Staatsgalerie Stuttgart zu finden sind. © Foto: Chiara Bellamoli

Während Ingrid Hartlieb arbeitet, stehen um sie herum die stummen Zeugen aus fast 50 Jahren Kunstschaffen. Sie kennt sie alle beim Namen: „Das da ist meine älteste Arbeit: Die „Große Zwangsjacke“, für die habe ich 1980 den Preis der neuen Darmstädter Secession bekommen.“ Die „Zwangsjacke“ ist auch ein gutes Beispiel für eine besondere Spezialität der Künstlerin. Sie treibt Bleiblech quasi in das Holz hinein, mit Nägeln, Klammern oder Kleber schneidet es in das „lebendige Fleisch“ des Holzes.

Wie kommt sie auf ihre griffigen Titel? Stammbaum, Zwangsjacke, Dolinen, Blickfänger, Abstandhalter (lange vor der Pandemie) oder Fluchtwerkzeuge (lange vor der Migrationsproblematik). „Mir ist der Titel ganz wichtig“, sagt sie. „Ich öffne einen Spielraum für den Betrachter zwischen Titel und fertigem Objekt. Hier ist er mit seinen Empfindungen und Reflektionen gefordert.“ Ihre Titel fliegen ihr zu, aus Gedichten, Romanen, Zeitschriften: „Es sind Worte, die einfach Pling machen. Die Fantasie setzt sich in Bewegung und ich muss dafür die passende Form finden.“

Einer der eindrucksvollen „Rettungsringe“, die sowohl aufgestellt als auch liegend ihre Wirkung entfalten. © Foto: Chiara Bellamoli
Einer der eindrucksvollen „Rettungsringe“, die sowohl aufgestellt als auch liegend ihre Wirkung entfalten. © Foto: Chiara Bellamoli

Ihre Galeristin Imke Valentien bewundert an Ingrid Hartlieb die „gänzliche Unabhängigkeit“, den Mut „zur Archaik, einfach zu Urformen zurückzukehren“. Für sie haben ihre Arbeiten eine „unheimliche Kraft. Sie strotzen geradezu vor Energie, zeigen aber auch eine hohe Sensibilität für das Material.“ Kennengelernt haben sich die beiden 2018, als Ingrid Hartlieb von der Kunststiftung Baden-Württemberg den Maria-Ensle-Preis für ihr Lebenswerk verliehen bekam. Imke Valentien war so begeistert, dass sie spontan eine ergänzende Ausstellung ausrichtete. Nun soll ihre Zusammenarbeit innerhalb des neuen re:discover-Formats der art KARLSRUHE weitere Früchte tragen.

An dem Material schätzt Ingrid Hartlieb die Lebendigkeit und Wärme, auch wenn es nicht ganz pflegeleicht ist

Denn obwohl Ingrid Hartlieb nichts an ihrer Künstlerkarriere missen möchte, nicht die Arbeitsaufenthalte in Italien, Paris oder Chicago, nicht die vielen Ausstellungen und das große positive Echo, so fühlt sie sich doch „in den letzten Jahren gar nicht mehr richtig wahrgenommen. Als Frau, als Künstlerin ist man in einem bestimmten Alter nicht mehr sichtbar, das spürt man einfach.“

Das sagt sie ohne Bitterkeit, denn die Arbeit, die fordert ja immer noch etwas von ihr. Und wer weiß, vielleicht folgt sie ja ihrem Vorbild Louise Bourgeois. Die ist mit 86 Jahren groß herausgekommen. Da hat Ingrid Hartlieb ja noch ein bisschen Zeit.

Service

Messe

Die Skulpturen von Ingrid Hartlieb sind auf der art KARLSRUHE am Stand der Galerie Imke Valentien zu sehen. Am 23.2. ist sie gemeinsam mit ihrer Galeristin Talkgast auf dem artima art meeting.

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