Sebastian Preuss

ist stellvertretender Chefredakteur der WELTKUNST und von KUNST UND AUKTIONEN. Er kommentiert, was ihn aufregt oder erfreut im Kunstbetrieb.

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Christoph Amend

ist Chefredakteur des ZEITmagazins und Herausgeber von WELTKUNST und KUNST UND AUKTIONEN. Jeden Monat befragt er den Kurator Hans Ulrich Obrist nach seinen Entdeckungen.

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Tillmann Prüfer

ist Style Director des ZEITmagazin. Er stellt jeden Monat herausragende Leistungen der Handwerkskunst vor.

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Annegret Erhard

Annegret Erhard ist ehemalige Chefredakteurin von KUNST UND AUKTIONEN. Den Markt beobachtet sie seit vielen Jahren.

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Hans Ulrich Obrist in Chicago

Eine Schau in der Graham Foundation in Chicago über Rifat Chadirji, der die Architektur Iraks und Syriens seit den 1960ern fotografisch dokumentierte.

Von Christoph Amend
22.12.2016

Herr Obrist, was haben Sie gesehen?
Ich war gerade wieder in Chicago, jedes Mal dort denke ich an meine erste Begegnung mit Studs Terkel, dem Pionier der Oral History …

… seine Radiogespräche sind legendär.
Ja, er hat mit ihnen sogar den Pulitzer-Preis gewonnen.

Warum war er für Sie wichtig?
Er hat mich auf die Idee gebracht, Künstlergespräche zu führen, aus denen die Bücher entstehen, die ich seitdem mache. Terkel hat mich übrigens damals schon auf die Fragilität der Aufnahmen hingewiesen und erzählt, dass er immer mehrere Geräte dabeihat, damit nichts passieren kann, falls mal eins ausfällt. Deshalb habe ich immer mindestens drei, manchmal sogar vier Aufnahmegeräte dabei.

Gleich drei oder vier? Wow.
Ja! Wenn du nur eins hast: russisches Roulette! Aber wenn du zwei dabeihast und eins hört plötzlich auf, wirst du auch nervös. Dann schaust du ständig, ob sie noch aufzeichnen. Nur bei drei oder vier musst du nie kontrollieren. Das ist der Trick.

Was war der Anlass für Ihren Chicago-Trip?
Mein Archiv wird seit den Neunzigern dort verwaltet. Von Joseph Grigely, dem großen Künstler, der seit seinem elften Lebensjahr taub ist. Wir hatten einen gemeinsamen Talk auf der Messe Expo Chicago, die hatten mich eingeladen. Ich war jetzt das dritte Jahr in Folge da, die gestalten das Messeprogramm außergewöhnlich gut.

Wie kommt es, dass Ihr Archiv dort ist?
Ursprünglich war es in Lüneburg, ich habe dort eine Weile unterrichtet. Aber dann kam ein neuer Dekan, der gleich McKinsey reingebracht hat. Und die fanden, mein Archiv verschwende Raum. Die klassische Geschichte. Also wurde es rausgeworfen. Deshalb ist mein Archiv in Chicago, und die Bücher sind in meiner Berliner Wohnung.
Dass ein Künstler die Arbeit eines Kurators archiviert …
…  ist ungewöhnlich, stimmt. Grigely möchte daraus ein Kunstprojekt machen. Er hat eine perfekte Bibliografie aller meiner Texte und Vorträge erstellt und arbeitet ständig mit sieben, acht Studenten an meinen Künstlerbüchern. Na ja, und dann habe ich in der Graham Foundation eine fantastische Ausstellung gesehen: „The Rifat Cha­dirji Archives“.

Wer ist das?
Rifat Chadirji ist einer der prägenden Architekten Bagdads im 20. Jahrhundert. Und gemeinsam mit seinem Bruder Kamil hat er in den Sechzigerjahren begonnen, die Architektur in Bagdad, im gesamten Irak und in Syrien fotografisch zu dokumentieren. Die beiden hatten damals Angst, dass sich ihre Heimat nach dem Ölboom stark verändern würde. Es ist unfassbar traurig, wenn man die Bilder heute sieht: wie dynamisch Bagdad damals war – heute ist durch die Kriege und den Terror alles zerstört. Man sieht, dass Städte auch sterben können. Die Ausstellung zeigt auch Chadirjis eigene Gebäude. Ich musste beim Betrachten an meine verstorbene Freundin, die Architektin Zaha Hadid, denken. Sie ist ja im Bagdad der Fünfziger- und Sechzigerjahre aufgewachsen, und sie hat mir immer davon erzählt, wie modern die Stadt damals aussah. Jetzt konnte ich das erstmals selbst sehen. In ein paar Tagen werde ich Rifat Chadirji in London interviewen, wo er heute lebt.

Wen haben Sie außerdem noch in Chicago wiedergetroffen?
Den unglaublichen sozialen Künstler Theaster Gates. Er ist ja auf der Westside Chicagos aufgewachsen und hat die Stadt verändert. Ganze Viertel hat er neu belebt! Aus Japan ließ er Keramikmeister einfliegen, die mit der lokalen Community Keramikwerkstätten gegründet haben, dadurch sind neue Arbeitsplätze entstanden. Und das in einer Welt, in der Arbeit mehr und mehr verschwindet. Er soll das jetzt auch in Detroit wiederholen, hat er erzählt.

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunst?
Das neue Buch von Judith Butler „Notes Toward A Performative Theory of Assembly“. Darin geht es um die Dynamik von öffentlichen Versammlungen unter den heuti­gen politischen und ökonomischen Bedingungen. Sie beschreibt, dass die Versammlung von Körpern eine eigene Kraft entwickelt, die man nicht allein auf die Sprache zurückführen kann.

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Ludwig Reiter – Bimsen für die Ewigkeit

Perfekt von oben und unten: Die besondere Machart der Schuhe der Wiener Schuhmanufaktur Ludwig Reiter erkennt man auch beim Blick auf die Sohle

Von Tillmann Prüfer
08.12.2016

Das Renaissance-Schloss Süßenbrunn am Rand von Wien beherbergt ein ungewöhnliches Handwerk: die Schuhmanufaktur Ludwig Reiter. 1885 gegründet, wird sie – mit Unterbrechungen – in der vierten Generation geführt. Der Betrieb erzählt von einer Zeit, als ein Herrenschuh noch kein Wegwerfartikel war, sondern das Fundament des Mannes. Als ein Mann, um Gutes tun zu können, erst einmal gut stehen musste. Im Hause Reiter spürt man noch den Glanz der Kaiserzeit. Denn die Manufaktur war offizieller Ausstatter der k. u. k. Polizeiwache und hatte auch den Abendschuh zur Uniform im Programm. Der schmucke Offizier sollte ihn tragen, wenn er ausging. 

Noch heute existiert dieser Schuhtypus in Form des Chelsea Boots. Und noch immer wird dieser bei Ludwig Reiter von Hand produziert. Etwa 50 Mitarbeiter fertigen jährlich 30.000 Paar Ludwig-Reiter-Schuhe. Die Manufaktur ist Spezialist für handgemachte Schuhe nach dem traditionellen Goodyear-Verfahren. Diese Technik wurde einst von der zweiten Reiter-Generation aus Amerika übernommen. Dabei wird der obere Teil des Schuhes nicht direkt, sondern über einen Rahmen und zwei elastische Nähte mit der Sohle verbunden, was einen besonderen Tragekomfort ermöglicht. Für einen rahmengenähten Schuh sind mehr als 300 Arbeitsschritte nötig. Zunächst wird das geeignete Leder ausgewählt. Dann werden die Elemente des Oberteils mit einer Schablone aufgezeichnet und zugeschnitten oder ausgestanzt. 

Hernach folgt das „Oberteilsteppen“: Die Teile werden zusammengefügt und mit dem Futter vernäht. Beim ­“Zwicken“ wird dann das Oberteil über den Leisten gespannt, eine dem Fuß nachgebildete Form aus Holz oder Kunststoff. Anschließend werden Laufsohle und Oberteil verbunden. Die ledernen Laufsohlen werden direkt auf den Rahmen, einen etwas drei Zentimeter breiten Lederstreifen, genäht. Dieser wird wiederum mit dem Oberteil verbunden. Nach dem Fräsen der Sohlenkante wird der Lederabsatz aufgedrückt und zurechtgefräst. Eine Besonderheit bei Ludwig Reiter ist das anschließende Bimsen: Damit die Naht an der Laufsohle vor Abrieb geschützt ist, wird sie zum Teil in der Sohle eingearbeitet. 

Zum Vernähen werden die zähen Ledersohlen in Wasser eingeweicht. Nach dem Trocknen ist die Schuhunterseite uneben und fleckig. Bei einem „gebimsten Boden“ wird die Doppelnaht in einem feinen Riss etwa zur Hälfte in der Sohle versenkt. Nach dem Nähen wird die weiche Sohle zugebügelt, sodass die Doppelnaht unter der Oberfläche verschwindet. Anschließend wird die Sohle mit einem feinen Glaspapier abgeschliffen. Früher wurde hierfür ein Bimsstein verwendet, daher heißt das Verfahren „bimsen“. Zum Schluss wird mit Wachstinkturen eine neue Politur aufgetragen. Durch das Bimsen wird der Schuh besonders haltbar, ein Partner fürs Leben. Schade nur, dass man ihm die besondere Machart von außen nicht ansieht. Denn wer schaut schon Schuhe von unten an?

ABBILDUNGEN

Ludwig Reiter, Wien

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Hans Ulrich Obrist in Athen

Künstler und Software-Ingenieure, die sich in Paris austauschen; Andreas Angelidakis und Nanos Valaoritis, die in Athen „Cadavre Exquis“ spielen

Von Christoph Amend
07.12.2016

Herr Obrist, was haben Sie gesehen?

Ich habe interessante Dinge in Griechenland gesehen, aber zuvor noch ein paar Sätze zu Paris, wo ich gerade herkomme, von einer Konferenz des Google Cultural Insti­tute. Da ging es um Machine Learning, um künstliche Intelligenz, und ich habe dort Panels veranstaltet, die jeweils einen Künstler oder Architekten mit einem Ingenieur zusammenbringen. Inspiriert von Billy Klüvers „Arts and Technology“-Programm in den Sechzigerjahren, als er im Auftrag der Telefonfirma Bell zum Beispiel Jean Tinguely und Robert Rauschenberg mit Technikern des Konzerns zusammenbrachte und ganz neue Projekte entstanden.

Bell war eine Art Google seiner Zeit.

Exakt. Wir haben jetzt etwa Hito Steyerl mit dem Ingenieur Mike Tyka zusammengebracht und Rachel Rose mit Kenric McDowell. Und dann ist beim Mittagessen etwas Unerwartetes passiert: Ich saß mit meinem Kollegen, dem Kurator und Digitalexperten Ben Vickers, und dem Künstler James Bridle zusammen, und auf einmal fragte mich Ben, wieso ich bei meinem Handschriftenprojekt auf Instagram …

… wo Sie handschriftliche Notizen und Zeichnungen von Künstlern sammeln …

… eigentlich nicht den „Cadavre Exquis“ wieder einführe. Das alte surrealistische Spiel, wo man ein Blatt drei-, viermal faltet, und jemand schreibt oder zeichnet etwas, ohne zu wissen, was der Vorgänger geschrieben oder gezeichnet hat. 

Warum heißt das Spiel eigentlich „Cadavre Exquis“, köstliche Leiche? 

Laut André Breton war der erste gebildete Satz des Spiels: „Der köstliche Leichnam wird den neuen Wein trinken.“

Sie führen das Projekt jetzt als „Exquisite Corps“ auf Instagram fort?

Wir haben gleich beim Mittagessen damit angefangen: Der erste neue „Exquisite Corps“ (Abb.) ist von Hito Steyerl, James Bridle und Mike Tyka. Ist das nicht komisch, dass wir ausgerechnet Google und eine Konferenz über künstliche Intelligenz brauchten, um auf diese Low-Tech-Idee zu kommen? Anschließend sind Ben Vickers und ich nach Athen geflogen, weil wir dort für das kommende Frühjahr eine Maria-Lassnig-Ausstellung vorbereiten. 

Was verbindet Lassnig mit Athen?

Sie ist häufig nach Griechenland gereist und hat dort in den Ferien Aquarelle gemalt, überhaupt hat sie oftmals Motive aus der griechischen Mythologie in ihren Werken zitiert. Die Aquarelle wurden noch nie gemeinsam ausgestellt. Friederike Mayröcker hat den Titel für die Ausstellung gefunden: „Die Zukunft erfinden wir mit Fragmenten der Vergangenheit.“

Was haben Sie in Athen außerdem gesehen?

Sie wissen ja, dass ich jedes Mal, bevor ich in eine Stadt komme, frage: „Wer ist eure Louise Bourgeois?“ Damit meine ich: Wer ist der Pionier oder die Pionierin, die ich interviewen kann, um ein knappes Jahrhundert zu erzählen? In Athen wurde mir Nanos
Valaoritis empfohlen, ein wichtiger Surrealist, geboren 1921 in Lausanne, der mit der griechisch-amerikanischen Malerin Marie Wilson zusammenlebt. Ich hatte im Hinterkopf, dass Nanos mir bei unserer letzten Begegnung von seiner Freundschaft zu André Breton erzählt hatte. Vielleicht, dachte ich, hat Nanos auch „Cadavre Exquis“ gespielt – und genauso war es! Er hat es jahrzehntelang mit Freunden und in seiner Familie gespielt. Ich habe ihn gemeinsam mit dem griechischen Architekten Andreas Angelidakis besucht, und so ist in Athen die nächste Folge von „Exquisite Corps“ entstanden. Angelidakis hat mir seine neue Arbeit Parliament Of Bodies (1) gezeigt, das sind mobile Sitzgelegenheiten, die hart aussehen wie Stein, aber unglaublich weich sind – ein wunderschönes Oxymoron. Man kann auf ihnen sitzen, man kann sie ganz leicht verschieben, Mauern bauen, einfach alles.

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunst? 

Ich bereite mich gerade auf einen Vortrag in New York vor und lese deshalb wieder die Bücher von Alexander Dorner, dem großen Museumsdirektor, den die Nazis aus Deutschland vertrieben haben. Er war ja besonders prägend in seiner Zeit in Hannover und ist 1937 in die USA emigriert. Besonders zu empfehlen ist sein Buch „The Way Beyond Art“ – „Die Überwindung der Kunst.“

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Alte Meister, neu inszeniert

Frischer Messewind aus New York und München belebt die Sammlerszene für alte Kunst. Dabei schlägt das Kojendesign Brücken ins Heute

Von Susanne Schreiber
07.12.2016

Neue Händlerkonstellationen erfreuen seit Herbst 2016 in Bayerns Metropole die Messeflaneure, die nur mehr zwei statt drei Standorte ansteuern müssen. Die Veranstalter der Munich Highlights haben verstanden, dass auch im feinen Residenzhof das Bezahlbare die Leitschnur sein muss, nicht das hoch bewertete Museale. Und die vom Nockherberg-Festsaal in den kreisrunden Postpalast umgezogene und ansehnlich erweiterte Kunst & Antiquitäten hat gezeigt, wie attraktiv ihr Angebotsprofil ist. Originelle Volkskunst (Pachmann) ist hier genauso zu entdecken wie romantische Naturskizzen (Spindler) oder kühn geschwungene Stahlmöbel (Martini) – bei überschaubaren Preisen.

Als Trendsetter hat sich jedoch die Tefaf Fall New York erwiesen. Der kürzlich am Hudson gestartete Ableger der Nobelmesse in Maastricht ist zwar ein Nachzügler, was den Export eines zum Markenzeichen gewordenen Messekonzepts betrifft. Er ist aber wie die Muttermesse ein Vorreiter in Sachen Augenschulung und Vermittlung. Von etlichen einzigartigen Standarchitekturen in der Exerzierhalle der Park Avenue Armory seien hier nur zwei vorbildliche herausgegriffen. Beim Altmeisterhändler Otto Naumann aus New York waren Wand und Boden der Koje schwarz getüncht, eine organoide weiße Plastiksitzgruppe aus den 1970ern diente zum Verweilen. Damit war den alten Meistern eine (Guckkasten)-Bühne bereitet. Der entscheidende Kniff bestand nun bei Naumann darin, die geschnitzten Barockrahmen wegzulassen. Die großen wie kleinen Porträts, die Heiligen wie die Märtyrer wurden bei ihm auf Holzplatten mit eidottergelbem, wiesengrünem oder kirschrotem Samt gesetzt. So bekam jedes historische Gemälde noch vor seiner Entschlüsselung Objektcharakter und vermochte sich so selbstbewusst neben zeitgenössischer Kunst zu behaupten. Dem Porzellanexperten Röbbig aus München gelang es hingegen durch radikale Vereinfachung, sein vertikal an einer Wand präsentiertes Schwanenservice des Grafen Brühl zu betonen. Statt einer echten geschnitzten Wandvertäfelung hinterfing in New York nur die als Tapete ausgedruckte Schwarz-Weiß-Zeichnung einer Boiserie Röbbigs zart reliefierte Meissen-Raritäten. Weniger ist – seit dem Bauhaus – eben mehr.

Diese Beispiele zeigen: Wer ein neues, jüngeres Publikum ansprechen will, muss sich von alten Zöpfen trennen. Die curated sales der großen Auktionshäuser machen es erfolgreich vor. Der heutige Kontext für ein Einzelstück alter Kunst spielt dabei eine genauso große Rolle wie das Verkaufsgespräch. Nicht nur Neueinsteiger empfinden einen vom Händler heruntergeleierten Sermon von den, ach, so vorzüglichen Provenienzen als langweilig. Sie sind zweifellos wichtig, aber erst wenn es den Preis zu begründen gilt. Am Anfang des Gesprächs sollten Funken sprühen, die viel eher Begeisterung entfachen, wenn der Händler die Geschichte des Bildes packend erläutert und so ein überzeugendes Narrativ für die Geldausgabe liefert. The Story sells. Nicht nur Neueinsteiger begeistern sich für alte Geschichten von großen Gefühlen, von Liebe und Leid. Die hören wir alle gern. 

Nix für ungut, bleiben Sie den handelbaren Künsten gewogen. Ihre Marktfrau.

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Schlangenbeschwörer – Bulgari

Symbol der Ewigkeit: Seit vielen Jahrzehnten fertigt Bulgari aufwendige, kleine Schmuckechsen, die sich um das Handgelenk schmiegen

Von Tillmann Prüfer
08.11.2016

Der Mensch hatte schon immer ein eher gespaltenes Verhältnis zu den Tieren mit gespaltener Zunge. Einerseits bewunderte man die Eleganz der Schlange – andererseits fürchtete man die Echse, die ihre Opfer wahlweise erwürgt oder vergiftet und anschließend verschlingt. Die alten Ägypter verehrten die Kobra als Göttin der Ernte, in der griechischen Mythologie ist es die Unheil bringende Medusa, die Haar aus Schlangen hat. Und dann ist da noch die Schlange im Garten Eden, die Adam und Eva dazu verführt, die Früchte des Baumes der Weisheit zu kosten. Hernach waren Adam und Eva zwar so klug, dass sie das Gute und das Böse unterscheiden konnten. Der Herrgott aber war ihnen gram und warf sie aus dem Paradies. Seitdem müssen Menschen arbeiten.
Darunter leiden wir heute immer noch – und das alles wegen ein paar Bissen frischen Obstes. Nun sitzen wir auf Erden, können gut und schlecht unterscheiden, was uns immerhin in die Lage versetzt, Dinge zu schätzen, wie sie das Haus Bulgari fertigt.

Das Haus wurde 1884 von Sotirio Bulgari, einem Mann griechischer Abstammung, in Rom gegründet. So war Bulgari schon immer von der griechischen und römischen Kultur geprägt. Nachdem Bulgari mit der Herstellung von Silberwaren und Dekorationsartikeln begonnen hatte, entschied er sich 1905, Schmuck zu schmieden. Nach seinem Tod 1932 führten seine Söhne Giorgio und Constantino den Betrieb weiter. Sie hatten die Idee, sich den Schlangen zu widmen. Sowohl in der griechischen wie römischen Mythologie repräsentieren Schlangen positive Eigenschaften wie Wiedergeburt, Heilung, Schutz und Verführungskraft. Bei Plato symbolisiert die sich in den Schwanz beißende Schlange die Ewigkeit. Deshalb hat man sich bei Bulgari das Tier zu eigen gemacht. Seit den 1940er-Jahren stellt der italienische Juwelier die sogenannte Serpenti-Kollektion her: Schlangen, die sich als Schmuck um den Arm schlingen.

Die Technik, mit der die Schmuckschlangen hergestellt werden, heißt Tubogas. Der Name ist von Gasschläuchen inspiriert, die tatsächlich einige Ähnlichkeit mit den Stücken haben. Bei Tubogas greifen einzelne Glieder eines Schmuckstücks so ineinander, dass das Teil flexibel ist wie ein Schlauch – oder eben ein Schlangenkörper. Die Schmuckstücke sind sehr solide, obgleich die Glieder nicht fest miteinander verbunden sind. Das Tubogas-Verfahren erfordert viel Geduld und jahrelange Erfahrung. Dabei muss der Goldschmied zwei Metallstreifen mit abgehobenen Kanten um einen Metallkern aus Kupfer schmieden. Der Kern, der auch aus Holz sein kann, wird später wieder entfernt. Die einzelnen Glieder sind schließlich durch die ineinandergreifenden Enden verbunden und sehr flexibel. Dadurch entsteht der Eindruck, das Stück sei weich und organisch. Die Glieder der Serpenti-Schlange sind dabei nicht gleich, sondern verjüngen sich zum Schwanz hin. Manche Modelle der Serpenti werden aufwendig mit Diamanten und anderen Edelsteinen verziert. Aus dem Schlangenkopf leuchten dann rubinrote Augen. Bei einigen Stücken ist im Schlangenkopf sogar ein Uhrwerk im Maul der Schlange untergebracht.

Die Schlange aus dem Garten Eden wurde für die Verführung Evas übrigens ebenfalls bestraft. Gott befahl ihr, fortan auf dem Bauch zu kriechen. Er nahm ihr also die Beine. Für die Serpenti-Armreifen ist das wiederum ein Vorteil. Denn so ein Schmuckstück mit Beinen zu versehen, wäre unnötig kompliziert und auch wenig elegant. Sie würden nur stören. Von daher hat der Konflikt im Paradies auch etwas Gutes gehabt.

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Hans Ulrich Obrist in Lissabon

Das neu eröffnete Museum MAAT in Lissabon, das wunderschön am Tejo liegt, eine quirlige Kunstszene vor Ort und eine Pynchon-Zeitmaschine

Von Christoph Amend
26.10.2016

Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?
Ich war in Lissabon, zur Neueröffnung des Museums MAAT, das von der Stiftung des Energiekonzerns EDP finanziert wird. Dessen CEO, António Mexia, hat als Direktor nicht nur Pedro Gadanho vom MoMA ­geholt, einen portugiesischen Kurator – er ist auch ein Förderer zeitgenössischer Architektur. Die Konzernzentrale ist fantastisch, Aires Mateus haben sie gebaut, die ja auf der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig gefeiert wurden.

Was ist das Besondere an dem Bau?
Er ist ein Gesamtkunstwerk, vielschichtig und lichtdurchflutet. EDP hat auch Designer wie Jasper Morrison eingeladen, weitere Büros und Restaurants zu gestalten.

Und das Museum?
Das MAAT ist die erste Institution in Lissabon, die Kunst, Architektur, Design und Technologie miteinander verbindet. Amanda Levete hat dieses interessante ­Gebäude entworfen, mit weißen Keramiken, die sich im Licht stetig verändern. Da sieht man, warum das einzigartige Licht Portugals immer wieder Künstler und Schriftsteller angezogen hat – wie man ja überhaupt sagen muss, dass derzeit viele Künstler nach Portugal gehen. Das liegt natürlich auch an den günstigen Mieten. Das Museum wird also im richtigen Moment eröffnet.

Warum?
Es ist ein Kristallisationspunkt im bekannten Stadtteil Belém, direkt am Fluss. Die Szenerie erinnert ein wenig an San Francisco, durch die große Brücke. Die Terrasse des Museums ist auf dem Dach, man hat dort oben einen unglaublichen Blick auf die Stadt. Und man sieht endlich über den Fluss, was bisher kaum möglich war. Man überblickt erstmals das gesamte Potenzial Lissabons. Als ich auf dem Dach stand, habe ich mich daran erinnert, wie ich als Schüler, mit 17 oder 18, dem Architekten Jacques Herzog begegnet bin …

… der einen Hälfte des berühmten Büros Herzog & de Meuron.
Und er sagte mir: „Ein gutes Museum ist immer auch ein Stück Urbanismus.“ Das war selten so wahr wie im Falle des MAAT und Lissabon.

Wie haben Sie die Kunstszene dort erlebt?
Einerseits ziehen viele junge europä­ische Künstler dorthin, andererseits sind aus historischen Gründen viele Künstler aus Afrika und Südamerika da. Der große venezolanische Künstler Juan Araujo lebt jetzt auch in Lissabon. Man spürt, wie global die Szene dort ist. Mir ist zudem eine Begegnung mit dem leider früh verstorbenen, italienischen Schriftsteller Antonio Tabucchi wieder eingefallen, der mir mal sagte: „Man kann nirgends besser schreiben als in Portugal.“ Wie ich überhaupt sagen muss: Ich hatte richtig Lust, eine Wohnung zu mieten, Lissabon wäre auch für mich ein super Ort zum Schreiben. Im November fahre ich gleich wieder nach Portugal, zu einem Vortrag nach Porto.

Die erste Ausstellung im MAAT ist von ­Dominique Gonzalez-Foerster, einer langjährigen Wegbegleiterin von Ihnen. Sie trägt den Titel „Pynchon Park“.
Dominique ist schon lange besessen von dem Schriftsteller Thomas Pynchon, der sich ja vollkommen aus der Öffentlichkeit ­zurückgezogen hat. Sie hat auf einer großen Fläche eine Art Zeitmaschine geschaffen, mit der man die 24 Stunden eines Tages innerhalb von 24 Minuten erleben kann. Überall liegen überdimensionale Objekte herum, die wie aufgeschlagene Bücher von Pynchon aussehen, mit dem Buchrücken nach oben. Man kann diese Bücher wie Wohnobjekte benutzen und dabei die Welt um sich herum vergessen.

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunst?
Ich lese gerade „Der Fluch des Geldes“ des Harvard-Ökonomen Kenneth S. Rogoff, der dafür plädiert, das Bargeld abzuschaffen, weil es nur Gewalt und Elend produziere. Spannender Gedanke!

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