Medardo Rosso

Vom Werden und Vergehen

Der italienische Bildhauer Medardo Rosso erfand um 1890 die moderne Skulptur. So lautet die These einer Ausstellung im Kunstmuseum Basel, die das wunderbar anschaulich macht

Von Ulrich Clewing
16.07.2025
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 242

Oder Louise Bourgeois und die polnische Künstlerin Alina Szapocznikow: In der Sektion „Berühren, Umarmen, Formen“ geben sie beide – Szapocznikows ziemlich zerstört wirkender Abguss des Oberkörpers ihres Sohnes Piotr wie auch Bourgeois’ aus Stoff unentwirrbar zusammengenähte Eltern- und Kinderfiguren – Rossos Lieblingsthema der innigen Umarmung von Mutter und Kind einen Drall ins Unheimliche. Und man merkt: Diese Gesichter der „Lachenden“, der ihr Kind Liebkosenden oder des „Kranken Kindes“ wirken auch schnell wie Fratzen. Solche Mehrdeutigkeiten waren Rosso besonders wichtig, sie gehörten zu seinem Weltbild und entsprachen (genauso wie das Prinzip des vergleichenden Sehens, das diese Ausstellung praktiziert) der Art und Weise, wie er die Dinge sah.

Rosso beschäftigte sich ausführlich mit philosophischen und wahrnehmungspsychologischen Fragen. Er war ein wilder Denker, bisweilen erkennt man in seinen theoretischen Äußerungen erst nach längerem Grübeln einen Sinn. So war er davon überzeugt, dass nichts im Raum stofflich sei, „denn alles ist Raum und somit ist alles relativ“. Das klingt wie ein Nachhall von Einsteins Relativitätstheorie, allerdings, so Rosso in einem Interview von 1923, „habe ich das schon 1883 gesagt“. Den österreichischen Schriftsteller und Journalisten Ludwig Hevesi überraschte er 1905 mit der Bemerkung: „Wie? Sie glauben, dass Sie etwas anderes sind als dieser Teppich, dieser Sessel?“ Um dann fortzufahren: „Wir sind nichts als die Konsequenz der Dinge, die uns umgeben. Selbst wenn wir uns bewegen, hängen wir immer mit anderen Sachen zusammen. Sie sind eine Tonalität, ein Farbengegensatz.“

Innige Mutterliebe in Wachs über Gips, von Rosso „Goldenes Zeitalter“ betitelt, 1886
Innige Mutterliebe in Wachs über Gips, von Rosso „Goldenes Zeitalter“ betitelt, 1886 © Markus Wörgötter/mumok

Das erklärt, weshalb Rosso mit so viel Nachdruck darauf achtete, wie die Werke präsentiert wurden. Er entwarf eigens dafür Vitrinen und vierbeinige, an Hocker erinnernde Sockel; beide hat man für die Ausstellung nachgebaut. Für ihn hing alles mit allem zusammen. „Rosso war sich im Klaren, dass das Objekt, die Plastik als geschlossenes autonomes Ding anfängt, sich aufzulösen, mit dem Licht, der Atmosphäre, der Umgebung des Ateliers in einem Kontext steht“, sagt Len Schaller von der kuratorischen Assistenz der Direktion des Kunstmuseums. „Er hat sich auch gegen die Grenzen von Nationalstaaten ausgesprochen. Grenzen machten für ihn ganz allgemein einfach keinen Sinn.“

Rosso ließ sich 1884 in Paris nieder, 1904 nahm er die französische Staatsbürgerschaft an. Aber er zog rastlos durch Europa, um seine Werke zu zeigen. Mit dabei hatte er stets „L’Homme qui marche“ von Rodin, den dieser ihm im Tausch gegen eine eigene Bronze überlassen hatte. „Er stellte den Torso zusammen mit seinen Arbeiten aus, um auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinzuweisen“, so Len Schaller, „das war damals sehr ungewöhnlich und wäre es heute noch.“

Manche der Werke, die Filipovic und Eipeldauer in die Ausstellung genommen haben, entwickeln nur lose Korrespondenzen zu Rossos Plastiken. Bei Constantin Brâncușis „Schlafender Muse“ oder Meret Oppenheims Relief „Weißer Kopf, blaues Gewand“ beschränken sie sich auf formale, oberflächliche Gemeinsamkeiten. Andere, wie die handkolorierte Filmaufnahme von Loïe Fullers „Serpentinentanz“, treffen den Charakter der ständigen Veränderung, vom „Erscheinen und Verschwinden“ (so ein weiteres Kapitel der Schau) in Rossos Büsten und Köpfen punktgenau, ohne dieses Erscheinen und Verschwinden zu imitieren. Momente wie dieser gehören zu den stärksten der Ausstellung: wenn aus der essayistischen Addition zweier an sich deutlich verschiedener Werke eine neue intensive Erkenntnis wird.

Wie Rosso lehnte Edgar Degas den heroischen Monumentalismus ab, der damals noch sehr verbreitet war: „Verletzter Jockey“, um 1896/98
Wie Rosso lehnte Edgar Degas den heroischen Monumentalismus ab, der damals noch sehr verbreitet war: „Verletzter Jockey“, um 1896/98 © Martin P. Bühler/Kunstmuseum Basel

Das Gleiche gilt für die Fotografien. In Basel sind zwei Aufnahmen ausgestellt, die Edward Steichen von Rodins stehender Figur des Schriftstellers Honoré de Balzac anfertigte: düstere, atmosphärisch dichte Szenerien, in denen die Statue des Dichters wie ein übergroßer Monolith im Dämmerlicht mächtig Eindruck schindet. Steichen hat sogar die Uhrzeiten vermerkt, zu denen er die Fotos (angeblich) anfertigte, „Midnight“ und „4am“. Im Vergleich dazu sind Rossos Fotos nüchterner – sie sollen offensichtlich nicht für sich allein stehen, sondern sind in den Gesamtzusammenhang eingebettet, an dem Medardo Rosso so viel gelegen war.

Im Ganzen halten sich in dieser Ausstellung Sinnlichkeit und kopflastiges Konzept die Waage. Ob man Medardo Rosso danach besser versteht? Sicher. Ob seine Kunst einem dadurch näherkommt? Das hängt davon ab, wie sehr man sich von ihr gefangen nehmen lassen möchte. Von den Gesichtern, die auftauchen und verblassen, von der flüchtigen Magie des Augenblicks. Von Formen, die sich in einer Sekunde zusammensetzen, um in der nächsten zu zerspringen.

Service

Ausstellung

„Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur“

Kunstmuseum Basel

Bis 10. August 2025

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