Medardo Rosso

Vom Werden und Vergehen

Der italienische Bildhauer Medardo Rosso erfand um 1890 die moderne Skulptur. So lautet die These einer Ausstellung im Kunstmuseum Basel, die das wunderbar anschaulich macht

Von Ulrich Clewing
16.07.2025
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 242

Ein Donnerstagvormittag Anfang April: In Basel scheint die Sonne, der Himmel ist so blau wie das Blau auf altem chinesischen Porzellan. Mit 180.000 Einwohnern gehört Basel zu den kleineren Großstädten. Und von den Schweizern sagt man, sie ließen die Dinge gerne etwas gemächlich angehen. Aber Basel ist geschäftig, hier sprechen die Menschen schnell. Das Kunstmuseum am St. Alban-Graben ist an diesem Vormittag moderat besucht, dabei ist seit ein paar Tagen eine spektakuläre Ausstellung zu sehen. Ihr Titel „Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur“ führt ein bisschen in die Irre, denn streng genommen handelt es sich bei Rossos Arbeiten nicht um Skulpturen, sondern um Plastiken. Und es werden nicht nur Werke des italienischen Bildhauers gezeigt, der 1858 in Turin geboren wurde und 1928 in Mailand starb.

Rosso gilt zwar vollkommen zu Recht als ein Pionier der modernen Kunst. Der einflussreiche Dichter und Kunstkritiker Guillaume Apollinaire nannte ihn 1918 sogar „den zweifellos größten lebenden Bildhauer“ – Auguste Rodin, der sich mit Rosso erst angefreundet und dann wieder entzweit hatte, war im Herbst 1917 gestorben. Die Kunstgeschichtsschreibung folgt längst Apollinaires Urteil, aber auf eigentümliche Art sind Rosso und seine Bedeutung für die Entwicklung der modernen Kunst einem breiten Publikum bis heute weitgehend verborgen geblieben.

Das Fotografieren war integraler Teil von Medardo Rossos Werk. Er nahm seine Plastiken aus verschiedenen Blickwinkeln auf und hielt Phasen der Entstehung fest, hier „Madame X“
Das Fotografieren war integraler Teil von Medardo Rossos Werk. Er nahm seine Plastiken aus verschiedenen Blickwinkeln auf und hielt Phasen der Entstehung fest, hier „Madame X“ © Markus Wörgötter/mumok

Die Basler Ausstellung will das ändern, indem sie im Neubau des Museums 50 Plastiken und rund fünf Mal so viele Fotografien des Künstlers versammelt. Und sie stellt den Arbeiten von Medardo Rosso Werke von etwa 60 Künstlerinnen und Künstlern der letzten hundert Jahre zur Seite, darunter Eva Hesse, Louise Bourgeois, Miriam Cahn und Isa Genzken, auch Richard Serra, Felix Gonzalez-Torres, Francesca Woodman und Constantin Brâncuşi, Loïe Fuller, Mary Cassatt, Paul Cézanne oder Edgar Degas. Die Aufzählung macht deutlich, was die Kuratorinnen der Schau damit bezwecken. Heike Eipeldauer vom Mumok in Wien, von der das Konzept der Ausstellung stammt, und Elena Filipovic, die Direktorin des Basler Kunstmuseums, die „Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur“ für die zweite Station in der Schweiz erheblich erweiterte, haben die Präsentation von Rossos Schaffen zu einem dreidimensionalen Essay gemacht.

Das soll nicht heißen, sie würden der Strahlkraft des Künstlers nicht so recht trauen. „Medardo Rosso“, sagt Filipovic, „hat den Begriff der Bildhauerei radikal neu definiert. Nicht nur in Bezug auf die Materialien, sondern auch in der Art und Weise, wie seine Werke mit Raum, Licht und Zeit interagieren.“ Rosso war nichts so zuwider wie die dominante Monumentalität der Skulpturen im späten 19. Jahrhundert. „Stattdessen“, betont die Direktorin, „setzte er auf Vergänglichkeit, Unvollkommenheit und das Prozesshafte seiner Arbeit. Für mich fühlen sich Rossos Plastiken fast lebendig an.“

Der Eindruck der Lebendigkeit und des damit verbundenen Vergänglichen stellt sich schon deshalb ein, weil Rossos bevorzugte Arbeitsmaterialien nicht etwa Stein, Tonerde oder Bronze waren, sondern verschiedene Arten von eingefärbtem Wachs, das er über einen Korpus aus Gips schichtete. Dadurch ergeben sich faszinierende Effekte. Wie Schemen oder übernatürliche Erscheinungen formen sich vor den Augen der Betrachterinnen und Betrachter Köpfe und Gesichter aus der rohen Masse. Sie dringen aus dem Untergrund an die Oberfläche wie bei der „Pförtnerin“, dem „Kind mit dem Mund voller Brot“, dem Kopf „Ecce Puer“ (Seht, ein Kind) – aber nur, um im nächsten Moment wieder zu verschwinden. Andere Plastiken wie der „Buchmacher“, das „Kind an der Mutterbrust“, eine der wenigen Bronzen von Rosso, oder „Boulevard-Impression (Paris bei Nacht)“ machen es einem schwer zu erkennen, was sie überhaupt darstellen. Und bei „Madame X“ von 1896 ist dies gar vollkommen unmöglich, die Plastik gilt allgemein als das Werk, bei dem Rosso die Abstraktion am weitesten getrieben hat. „Die Verwendung von Wachs war damals revolutionär. Das verlieh Rossos Plastiken eine fast fleischige Qualität, aber auch eine gewisse Zerbrechlichkeit“, sagt Elena Filipovic.

Medardo Rossos Plastik „Ecce Puer“ (Seht, ein Kind), 1906, Guss nach 1920
Medardo Rossos Plastik „Ecce Puer“ (Seht, ein Kind), 1906, Guss nach 1920 © Fabbri Federico/Courtesy Galleria Russo, Rom

In der Flüchtigkeit der Erscheinung liegt nicht nur der große Reiz von Rossos Arbeiten. Sie hat auch einen handfesten Grund. Für Rosso ganz entscheidend war die Bestimmung des Standpunktes, von dem seine Werke betrachtet werden sollten. Ein Aspekt, der den massiven Einsatz von Fotografien erklärt, obwohl Rosso dem Medium Fotografie eigentlich kritisch gegenüberstand. Schon 1902 stellte der Künstler Fotografien seiner Arbeiten zusammen mit den Plastiken aus, er verstand sie also als integrale Bestandteile seines Schaffens. „Die Fotografie nutzte Rosso nicht nur zur Dokumentation, sondern auch, um seine eigenen Arbeiten neu zu gestalten und weiterzuentwickeln“, erklärt Filipovic. „Damit betonte er ihre sich verändernde Präsenz. Diese Arbeitsweise ist sehr zeitgenössisch und modern. Ich bin überzeugt, dass seine Ideen und Ansichten bis heute großen Einfluss haben.“

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