Der italienische Bildhauer Medardo Rosso erfand um 1890 die moderne Skulptur. So lautet die These einer Ausstellung im Kunstmuseum Basel, die das wunderbar anschaulich macht
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16.07.2025
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 242
Das geht so weit, dass es bei manchen Werken tatsächlich nur einen einzigen möglichen Blickwinkel gibt. Geht man um einen Kopf wie dem des „Jüdischen Kindes“ herum, sieht man an der Stelle, an der sich der Hinterkopf befinden sollte, eine Abbruchkante wie an den Kreidefelsen von Rügen. Rosso fertigte von der Plastik mehrere Versionen an, von denen sechs in Basel in einer Art Karussell von Ähnlichkeit und Abweichung ausgestellt sind. Und nicht umsonst gibt es in der Ausstellung ein Foto, das beweist, dass Rosso eine davon in einer Wandnische präsentierte, sodass man gar nicht in Versuchung kommen konnte, die Rückseite zu untersuchen.
Verglichen mit der Kunst der Zeit, waren theoretische Ansätze wie diese damals ausgesprochen avantgardistisch. Das war für Eipeldauer und Filipovic einer der Hauptgründe, die Ausstellung nicht chronologisch zu ordnen – Datierungen sind bei Rosso bis zu einem gewissen Grad immer Glücksache. Die Kuratorinnen haben Rossos Schaffen analysiert und in insgesamt neun Kapitel unterteilt. Eine brillante Entscheidung, denn so gelingt es, Merkmale und Eigenheiten eines Künstlers zu betonen, der ansonsten nur schwer in gängige Kategorien passt. Die Kapitel tragen Überschriften wie „Fotografie“, „Inszenierung“, „Berühren, Umarmen, Formen“ oder „Ungestalt“ – und da kommen nun die Werke der übrigen Künstlerinnen und Künstler ins Spiel.
Nur im ersten Saal des Rundgangs sind – bis auf Cézannes „Fünf Badende“ und Rodins Torso des „L’Homme qui marche“ – fast ausschließlich Werke von Medardo Rosso zu sehen. In allen übrigen Räumen des Rundgangs haben Filipovic und Eipeldauer seine Plastiken und Fotografien mit Arbeiten von anderen kombiniert. Einige von ihnen hat Rosso in den gut dreißig Jahren, die er in Paris lebte, selber kennengelernt, Rodin zum Beispiel oder Edgar Degas. Von Brâncuși, Alberto Giacometti, Louise Bourgeois, Marisa Merz und Juan Muñoz weiß man, dass Rossos Plastiken sie stark beeindruckten. Aber beides war nicht ausschlaggebend für ihre Aufnahme in den Ausstellungsparcours. „Es war uns wichtig, eine große Bandbreite an Kunst zu zeigen“, sagt Filipovic, „und häufig bestehen die Verbindungen weder in direkter Rezeption noch in zeitlicher Nähe.“
In der direkten Gegenüberstellung mit im Ansatz ähnlichen Arbeiten, so die These, wird Rossos Methodik besonders deutlich sichtbar. Und das funktioniert hervorragend. Manchmal offenbart sich in der theoretisch angelegten Herangehensweise auch hintergründiger Humor. In dem Saal, in dem Rossos Ablehnung des Heroischen und Monumentalen verhandelt wird, hängt ein Gemälde von Edgar Degas. Sein „Jockey blessé“ gehört zur Sammlung des Kunstmuseums, man sieht darauf ein Stück Himmel, einen grünen Hügel, ein fliehendes Pferd – und den Reiter, den das Ross gerade abgeworfen hat. Wie er da auf dem Rücken liegt, ist ihm in der Tat alle Heroik abhandengekommen. Es ist zwar nicht so, dass sich das Motiv des Verschwindens und Vergehens bei Rossos Arbeiten nicht von selbst aufdrängen würde. Doch hat man etwa zugleich Miriam Cahns Gemälde einer geisterhaft zerfließenden Figur vor Augen, werden die Parallelen so deutlich, dass man keinen Zweifel mehr daran hegt.