Ausstellungen

Der Gropius Bau erzählt von der verlorenen Zeit

Im Berliner Gropius Bau lassen kostbare Ausgrabungsfunde, die seit 1994 in Deutschland entdeckt wurden, die Vergangenheit lebendig werden

Von Tim Ackermann
05.11.2018

Der deutsche Multikulturalismus erlebte seine erste Blüte nicht in Kreuzberg. Sondern in Colonia Claudia Ara Agrippinensium. Die heute unter der schlichteren Namen Köln bekannte Siedlung am Rhein fungierte spätestens ab 90 nach Christus als Hauptstadt der römischen Provinz Niedergermanien. Ein offensichtlicher Fachkräftemangel innerhalb der lokalen Bevölkerung hatte allerdings schon zuvor Menschen aus den entfernten Ecken des Reiches herangelockt. Darunter auch Horus, Sohn des Pabecus, aus Alexandria. Die Inschrift seines Grabsteins aus der ersten Hälfe des ersten Jahrhunderts, der bei Ausgrabungen im Umfeld des alten römischen Hafens gefunden wurde, verrät, dass der Ägypter als Untersteuermann bei der Flotte gearbeitet hatte. Er starb im Alter von 60 Jahren an Ufern, die seine neue Heimat geworden waren.

Eintauchen in das antike Hafenleben

Fantasieanregender als in der Schau »Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland« kann man Ausgrabungsfunde nicht präsentieren. Das beweist schon das Entree im Lichthof des Gropius Baus in Berlin, wo Entdeckungen ausgebreitet werden, die man in den vergangenen Jahren beim Ausschachten der Kölner Stadtbahnerweiterung machte. Allein 640 000 Fragmente von tönernen Gefäßen und Transportamphoren wurden geborgen, unzählige sind jetzt in Berlin aufgehäuft. Manche liefern durch Aufschriften Hinweise auf Inhalte und Ursprungsorte: Weine aus Italien, schwarze Oliven aus Spanien, Garum (Würzsauce) aus Pompeji.

Zu den Haushaltsabfällen der römischen Epoche gehörten aber auch Kämme aus Holz, bronzene Siebgefäße oder Austernschalen, die aus Nordfrankreich stammen. Kein Wunder, dass die glücklichen Bewohner des antiken Köln den lebensspendenden Fluss – ihre Transportader – als Kalksteinrelief in Form des vollbärtigen Gottes Rhenus verewigten.

Verbindungen durch Raum und Zeit

Aber die Epoche, die hier lebendig wird, ist eben auch nur eine Episode der sehr sehenswerten Ausstellung. Die Kuratoren der Staatlichen Museen zu Berlin, die mit Kollegen vom Verband der Landesarchäologen kooperiert haben, konnten aus dem Vollen schöpfen: Zahlreiche Museen haben archäologische Neufunde der vergangenen 25 Jahre aus allen deutschen Regionen geschickt. Und glücklicherweise wird nichts auf konventionelle Art chronologisch präsentiert. Die Ausstellung entwickelt ihren erzählerischen Sog, indem sie die Objekte vier Kapiteln zuordnet, die übergreifende, zeitlose und daher umso entscheidendere Themen der Zivilisationsgeschichte beschreiben: Migration, Austausch, Konflikt und Innovation.

Der mobile Mensch

In Bewegung war der Mensch eigentlich immer. Der hölzenerne Wurfspeer, der 1994 in Schöningen bei Helmstedt gefunden wurde, gehörte vor 300 000 Jahren zu einem mobilen Lager auf der Jagd nach Wildpferden. Mit 229 sorgfältig geglätteten Zentimetern war er die perfekt ausbalancierte Waffe für unseren altsteinzeitlichen Ahnen, den Homo heidelbergensis. Das Migrationsthema beginnt in der Ausstellung jedoch im siebten Jahrtausend vor Christus, als Ackerbauern erstmals aus dem Mittelmeerraum nach Norden wanderten. Neusteinzeitliche Brunnenfunde von Linienbandkeramik belegen einen umfassenden Kulturwandel, der in der Bronzezeit seine ersten Höhepunkt erreicht: Wer das bronzene Speichenrad mit Felge betrachten, das 1000 vor Christus gefertigt und im Landkreis Stade gefunden wurde, ist ergriffen von der makellosen Schönheit eines Werkzeugs, das einst den Weg durch die norddeutschen Moore erleichterte.

Handel war zu dieser Zeit bereits eine wichtige Motivation für Mobilität, wie 3500 Jahre alte Bündel von kupfernen Spangenbarren belegen, die nach Gewicht bemessen und zum Transport verschnürt wurden. Leichter durch Austausch als durch Beute gelangte man auch später an begehrte Waren – wie den feuervergoldeten byzantinischen Offiziershelm, den der wohlhabende fränkische Herr von Morken (Rhein-Erft-Kreis) um das Jahr 600 vermutlich mit großem Stolz trug.

Auf dem Schlachtfeld

Der Kontakt der Völker verlief nicht immer konfliktfrei, auch das betont die Ausstellung. Anhand von Pfeilspitzenfunden weiß man ziemlich detailliert, wie 235 nach Christus römische Soldaten am Harzhorn bei Nordheim in einen Hinterhalt der Germanen gerieten. Dass Rom Truppen weit jenseits des Limes stationiert hatte, belegen Knochenschnitzereien aus der Zeit des Kaiser Augustus, die in Haltern an der Lippe entdeckt wurden und von Totenbetten aus dem Lager Aliso stammen. Von dort war man zur fatalen Varusschlacht aufgebrochen. Die Sieger waren im Triumph selten zimperlich: Ein vergoldeter Bronze-Pferdekopf einer römischen Reiterstatue wurde 2009 in den Trümmern eines antiken Brunnens bei Waldgirmes (Rhein-Land-Kreis) gefunden – wohl als Relikt eines germanischen Bildersturms.

Der Pferdekopf von Waldgirmes wird vom 7. November bis zum 17. Dezember zu sehen sein. Er löst das zweite große Glanzstück der Schau, die Himmelsscheibe von Nebra ab, deren Leihfrist am 5. November endet. Das über dreieinhalb Jahrtausende alte Objekt diente kundigen Menschen der Bronzezeit sowohl als Kalender wie auch als repräsentativer Kultgegenstand – so wie viele Exponate im Kapitel »Innovation« die Bedeutung der Kunst für die Zivilisation betonen.

Die sechs Zentimeter hohe, aus Elfenbein geschnitzte »Venus vom Hohle Fels« aus dem Achtal (Baden-Württemberg) oder der 110 Zentimener messende Statuenmenhir von Gallmersgarten (Bayern) verdeutlichen, wie sich Homo Sapiens vor 40 000 beziehungsweise 5000 Jahren ein Bild von den Göttern und sich selbst machte. Der Katalog spekuliert, dass es genau diese kulturschaffende figürliche Kunst war, die den technischen Vorsprung gegenüber dem damals aussterbenden Neandertaler ausmachte.

Service

Ausstellung

„Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland“
Gropius Bau, Berlin, bis 6. Januar

Dieser Beitrag erschien in

Weltkunst Nr. 150/2018

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