Nusch Éluard und der Surrealismus

Optiken des Unbewussten

Nusch Éluard gilt als „Muse“ der Surrealisten. Auf dem Auktionsmarkt sind sowohl ihr eigenes zeichnerisches Werk als auch die Fotografien gefragt, die Dora Maar und Man Ray einst von ihr schufen

Von J. Emil Sennewald
14.07.2022
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 11/22

„Cadavre exquis“ ist eine künstlerische Methode, die Kontrolle über den Werkprozess, mithin über die Sinnfindung, aus der Hand zu geben. Ein Satz oder auch eine Zeichnung wird dabei durch eine Gruppe von Personen erschaffen, indem ein Papier – schrittweise zusammengefaltet – weiter und weiter gereicht wird, ohne dass die Nachfolgenden wissen, was bereits aufgezeichnet wurde. Erdacht von den Surrealisten, bringt dieses Gesellschaftsspiel zum Vorschein – so dachte das zumindest die Künstlergruppe um André Breton – was sich dem Bewusstsein entzieht.

„Famille/Famine“ (Familie/Hungersnot) steht im unteren Drittel einer aquarellierten Zeichnung auf schwarzem Papier, die 2003 bei Calmels-Cohen im Pariser Drouot mit 26.000 Euro die Taxe mehr als verdoppeln konnte. Erstellt wurde dieser „erlesene Leichnam“ von Nusch Éluard (1906–1946). Genauer gesagt: Sie dürfte die Initiatorin des notwendigerweise im Kollektiv erstellten Werks gewesen sein, das sich in der Sammlung André Breton befand. Die beachtliche Steigerung dieses Homunculus mit Kerzenkopf und Spinnenfingern ist bemerkenswert. Denn Nusch, die 1906 im elsässischen Mülhausen als Maria Benz geboren wurde, hat als bildende Künstlerin wenig Präsenz. Sie war eine vielseitige Darstellerin im Variété, hatte sich als Akrobatin verbogen und als Fotomodell verdingt. Max Bill verliebte sich 1929 in Zürich in sie und gab ihr nach dem Fabelwesen „Nusch-Nuschi“ aus einem Opern-Libretto von Franz Blei ihren Spitznamen, den sie beibehielt, auch nachdem ihre Beziehung mit Bill in die Brüche gegangen war.

Famille Famine Nusch Éluard Calmels-Cohen Drouot
„Famille / Famine“ (Familie / Hungersnot) steht im unteren Drittel der aquarellierten Zeichnung von Nusch Éluard, die 2003 bei Calmels-Cohen im Pariser Drouot mit 26.000 Euro die Taxe mehr als verdoppeln konnte. © ADAGP, Paris, 2005, Courtesy Association Atelier André Breton

Heute ist Nusch vor allem als „Muse“ der Surrealisten bekannt, zu denen sie 1930 in Paris über die Vermittlung von René Char und Paul Éluard stieß. Die beiden Männer hatten die Schauspielerin quasi von der Straße aufgelesen. Éluard ließ sie bei sich wohnen, zunächst aus Mitleid. Dann nahm er sie mit in den gemeinsamen Urlaub mit Salvador Dalí, Gala und Char. Gala ließ sich nach diesen vierzehn Tagen scheiden. Nusch kehrte zu ihren Eltern nach Mülhausen zurück. Nach einigen Wochen stieß Éluard aber erneut zu ihr. Ihre Beziehung erneuerte sich: Man tat sich zusammen, „kreierte“ sich als Liebespaar und heiratete schließlich 1934. Fortan lebten die beiden in einer sehr offenen Beziehung. Paris entdeckte Nusch zunächst als Fotomodell – Man Ray machte einige Aktsitzungen mit ihr. Auch ihm war sie zugeneigt, wie intime Aufnahmen von 1935 beurkunden, die Ray nackt mit ihr knutschend auf dem Boden eines sonnendurchfluteten Zimmers zeigen.

Die surrealistische Kunst – folgt man der amerikanischen Kunstkritikerin Rosalind Krauss – ist durchzogen vom Begehren der Frau. Gemeint ist hier meist die begehrte Frau. Doch die entscheidende Triebkraft für das Bildwerden der Moderne, so Krauss’ These – die vielleicht auch „The milk of dreams“, Cecilia Alemanis zentrale Ausstellung auf der diesjährigen Biennale inspiriert hat –, war weibliches Begehren. Und zwar in seiner Verschränkung aus passiver Hingabe und aktivem Verschlingen. Als Spiel zwischen Auge und Mund, wie es Dalí in seiner 1933 erstellten Fotomontage „Das Phänomen der Ekstase“ inszenierte, in deren Zentrum ein genießender Frauenkopf mit halb geöffnetem Mund und geschlossenen Augen zu sehen ist. Dennoch wurde das weibliche Begehren auch später meist komplett passiv ausgelegt – wie die häufige Reduktion von Frauen auf die Rolle der „Muse“ demonstriert. Es wird eben immer gesehen, was gesehen werden will …

1935 fotografierte Man Ray auch das Ehepaar Nusch-Éluard: Der Ehemann küsst hier die ihm ergebene, ihn anschmachtende Frau von oben herab zart auf die Stirn. Auf 26.000 Euro wurde das Bild bei Christie’s in Paris letztes Jahr gehoben – fast das Neunfache der Taxe. Nusch hat auf diesem Paarporträt die Augen nicht ganz geschlossen – wie entrückt schimmert das Weiß unter ihren Lidern hervor, als ironisiere sie die zärtliche Beschützergeste Éluards durch künstliche Ekstase.

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