„Sander Collection“ bei Grisebach

Maschinenmenschen

Das Berliner Auktionshaus Grisebach versteigert Kunst der Zwanzigerjahre aus der Sammlung des Jahrhundertfotografen August Sander

Von Ivo Kranzfelder
07.06.2021
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 9

Im November 2019 versteigerte Grisebach für 770.000 Euro ein Konvolut von 70 Aufnahmen von August Sander, die sein Sohn Gunther Sander 1961 bis 1963 noch unter der Ägide seines 1964 verstorbenen Vaters für eine Wanderausstellung anfertigte. Es handelte sich um eine Auswahl aus Sanders einzigartigem, sich über Jahrzehnte erstreckenden Projekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“, das als eine Art „visueller Soziologie“ (Alfred Döblin) gedacht war und einen Querschnitt durch alle Schichten und Klassen – oder „Stände“ – der Gesellschaft abbilden sollte, mit einem geplanten Umfang von 45 Mappen zu je zwölf Aufnahmen, eingeteilt in sieben thematische Blöcke oder Gruppen.

Am 10. Juni findet bei Grisebach nun eine weitere Auktion im Zusammenhang mit August Sander statt. Diesmal werden allerdings, neben einigen fotografischen Künstlerporträts von Sander selbst, Arbeiten seiner Kunstsammlung angeboten, beziehungsweise, wie es im Katalog formuliert wird, Werke einer Sammlung, „deren Ursprünge auf den Fotografen August Sander (1876 – 1964) zurückgehen“. Ein Geheimnis bleibt, warum mit einem Anglizismus die „Sander Collection“ vorgestellt wird. Die Künstler stammen alle aus dem Freundeskreis des Fotografen und gehören zum Umfeld des nicht exakt definierten, eher lockeren Zusammenschlusses der „gruppe progressiver künstler“, auch bekannt als die „Kölner Progressiven“. Protagonisten waren Franz W. Seiwert (1894 – 1933), Heinrich Hoerle (1895 – 1936) und Gerd Arntz (1900 – 1988).

Der Zusammenhang zwischen Sander, seinem Projekt und den meist eine Generation jüngeren Künstlern wurde schon im Jahr 2000 in einem etwas größeren Rahmen in der Ausstellung „Zeitgenossen. August Sander und die Kunstszene im Rheinland“ in der Kunsthalle Köln thematisiert. Im Grisebach-Katalog rekapituliert Wulf Herzogenrath, der bereits 1975 im Kölnischen Kunstverein eine Ausstellung über die Zwanzigerjahre in Köln veranstaltet hatte, die Rezeption der „Kölner Progressiven“ bis heute. Christoph Stölzl beschreibt den breiteren Kontext in einem Beitrag über „Politik und Kunst im Köln der Zwanzigerjahre“.

Highlight der Auktion ist zweifellos Franz W. Seiwerts „Wandbild für einen Fotografen“ aus dem Jahr 1925, das bisher als Leihgabe aus dem Sander’schen Familienbesitz im Kölner Museum Ludwig hing. Highlight nicht nur dem Sinne, dass es sich um eines der vom Format her größten Bilder von Seiwert überhaupt handelt, sondern auch in der damit verbundenen Eigenschaft als ein dem Fotografenfreund persönlich zugeeignetes Bild – und nicht zuletzt in Hinsicht auf den ambitionierten Schätzpreis von 400.000 Euro.

Seiwert bildete auch als Theoretiker den Kopf der Kölner Progressiven. Beeinflusst von Suprematismus und Konstruktivismus suchte er, eine überindividuelle, zeichenhafte Formensprache zu entwickeln und trotzdem an der Figur festzuhalten, was in einen figurativen Konstruktivismus mündete. Weltanschaulich verbanden sich bei den Mitgliedern der Gruppe Pazifismus – nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs – und ein nicht doktrinärer Kommunismus oder Sozialismus mit expressiver Religiosität. „Proletarische Tendenzkunst“, schrieb Seiwert 1929, „entsteht nicht, indem man bürgerliche Schlachten- und Historienmalerei … mit proletarischen Vorzeichen versieht. Die Umbildung der Form ist genauso wichtig wie die Umbildung des Inhalts.“

Eine „Ländliche Familie“ von 1923, von Seiwert selbst betitelt mit „Die Landarbeiter“, circa 38 mal 44 Zentimetern groß, wird auf 100.000 Euro taxiert. Eine kleine, 25,7 mal 19,5 Zentimeter messende, stark abstrahierte Halbfigur immerhin noch auf 30.000 Euro. Für eine ziemlich exakte Vorstudie zu dem heute im Von-der-Heydt-Museum in Wuppertal befindlichen Bild „Bauernkrieg“ in Farbstift oder -kreide und Tuschfeder, die vor knapp 20 Jahren bei Lempertz mit etwas über 20.000 Euro die Taxe verdreifachte, werden jetzt 25.000 Euro erwartet.

Hoerle Selbstbildnis Grisebach Auktion Sander-Collection
Heinrich Hoerles „Selbstbildnis“ von 1931 geht mit 60.000 Euro ins Rennen. © Photostudio Bartsch, Karen Bartsch, Berlin / Grisebach GmbH

Hoerle, künstlerischer Autodidakt, ist stilistisch vielfältiger als Seiwert. Porträtzeichnungen von Seiwert (Taxe 7000 Euro) oder Jankel Adler (Taxe 8000 Euro) stehen neben Arbeiten in mechanistischer Auffassung wie dem bekannten „Selbstbildnis“ von 1931, das bei aller Schematisierung erkennbar ist und durchaus auch Witz und Selbstironie besitzt (Taxe 60.000 Euro). Dass nicht immer alles bierernst zuging, zeigen Aufnahmen Sanders vom „Mamukuba“ (Maler-Musiker-Kuenstler-Ball) 1926 (s. Titel, Taxe 12.000 Euro) oder vom „Lumpenball der Kölner Progressiven“ 1928 (Taxe 15.000 Euro). Ein stilisiertes „Spießerpaar“, ein Linolschnitt Hoerles von 1922, zeigt zumindest inhaltlich Anklänge an den beißenden und zutreffenden Sarkasmus eines George Grosz und darüber hinaus eine mit diesem vergleichbare und für das frühe Entstehungsjahr der Arbeit bemerkenswerte politische Hellsichtigkeit: Wo die Frau das christliche Kreuz am Kragen ihres braven Kleides oder der Bluse trägt, prangt beim Mann unter Vatermörder und Fliege das Hakenkreuz (Taxe 2000 Euro). Es gab einige wenige Künstler, die schon sehr früh vor Hitler warnten, während er insgesamt von der großen Mehrheit als vernachlässigbare Bierkellergröße unterschätzt wurde. Das Motiv eines weiteren Linolschnitts von Hoerle, Prothesenkopf aus der Zeit um 1925 (Taxe 2000 Euro), taucht 1930 in seinem Gemälde mit dem sarkastischen Titel „Denkmal der unbekannten Prothesen“ wieder auf, heute (wie Seiwerts „Bauernkrieg“) im Von-der-Heydt-Museum in Wuppertal.

In diesem Zusammenhang – mechanische, roboterhafte Figuren, heute würde man sagen Cyborgs, oder, als sichtbare Kriegsfolge, Prothesen (wer dächte da nicht an modernste Technik, bei der künstliche Glieder über Nervenbahnen mit elektrischen Impulsen direkt vom Gehirn aus gesteuert werden, parallel zur immer ausgefeilteren Technik von Bomben und Minen) – sind auch die Arbeiten von Gottfried Brockmann interessant. Seine Figuren ähneln oft Manichini, geschult an der italienischen Renaissance oder an de Chirico.

Brockmann Bilderbogen Grisebach Auktion Sander-Collection
Die Mappe „Bilderbogen der Zeit I: Arbeiter“ mit 15 Linolschnitten von Gottfried Brockmann aus dem Jahr 1927 ist auf 4000 Euro geschätzt. © Photostudio Bartsch, Karen Bartsch, Berlin / Grisebach GmbH

Sind sie Arbeiter, wie in der Linolschnittmappe „Bilderbogen der Zeit I: Arbeiter von 1927“ (Taxe 4000 Euro), verhalten sie sich wie Maschinenmenschen. Auch dieses Motiv ist in der Zeit der Technik- und Fortschrittsgläubigkeit verbreitet, man denke wieder an Grosz, an Heartfield, im Film an Fritz Lang – „Metropolis“ – oder an Harry Piel. Ebenfalls zeittypisch seine Jahrmarktbilder, etwa mit dem „Zauberer“ (1929, Taxe 3000 Euro) oder dem „Pudelmenschen“ (1930, Taxe 1500 Euro), einem Derivat der Freakshows von Barnum. Ein ähnliches Sujet, allerdings als viel früheres (und anonymes) Bild, ist zu sehen in der Wunderkammer auf Schloss Ambras bei Innsbruck – die Tradition ist lang.

Christoph Stölzl zieht in seinem Beitrag eine Art Bilanz der Aktivitäten der „Kölner Progressiven“: Die Veränderung der Gesellschaft sei ihnen „misslungen“, genauso wie den anderen revolutionären Kunstströmungen der Weimarer Zeit: „Sie gingen 1933 unter, zusammen mit der Republik.“ Nur die Typisierung – hervorzuheben hier noch Gerd Arntz, der mit einigen frühen Holzschnitten (Taxe je 2000 Euro) und einer später gedruckten Mappe (Taxe 12.000 Euro) vertreten ist – habe sich als „Piktogramm-Prinzip“ in der „Kommunikation der modernen Weltgesellschaft“ durchgesetzt. Entscheidend ist das Problem, das Stölzl anspricht und mit dem sich Sander und seine Künstlerfreunde auseinandergesetzt haben, und zwar auch in der historischen Situation, in der sie sich befanden.

Alfred Döblin hat in seiner Einleitung zum 1929 erschienenen Band „Antlitz der Zeit“ mit 60 Aufnahmen von Sander einen Hinweis darauf gegeben. Er bezieht sich auf den mittelalterlichen Nominalismusstreit: „Die Nominalisten waren der Meinung, dass nur die Einzeldinge wirklich real und existent sind, die Realisten aber hielten dafür, nur die Allgemeinheiten, die Universalien, sagen wir die Gattung, sagen wir die Idee, sind eigentlich real und existent.“ Sowohl bei Sander als auch bei den Arbeiten seiner Freunde (und bei vielen anderen revolutionär gesinnten künstlerischen Strömungen und Bewegungen der Weimarer Zeit) finden sich Versuche der Kombination oder Versöhnung der beiden gegensätzlichen Standpunkte Individualität und Typisierung. Das lässt sich an den Arbeiten in dieser Auktion prototypisch ablesen – neben der Möglichkeit zum Erwerb hochinteressanter Objekte natürlich.

Service

AUKTION

Grisebach Berlin

Auktion 10. Juni

Besichtigung bis 8. Juni

www.grisebach.com

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