Kunstwissen

Museen vor dem Neubeginn

Die Museen in Europa öffnen wieder, doch die Ära des weltweiten Ausstellungsrummels scheint vorbei. Nutzen die Institutionen die Krise als Chance für eine Neubestimmung? Ein Kommentar

Von Simone Sondermann
07.07.2020

„Once in a Lifetime.“ So lautete der Titel einer Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien, die im Herbst 2018 rund drei Viertel der nur 40 erhaltenen Gemälde von Pieter Bruegel dem Älteren zusammenbrachte. Dank unerwarteter Restaurierungsergebnisse und internationaler Leihgaben sorgte diese Schau nicht nur in Fachkreisen für Raunen. Sie bescherte dem KHM einen Rekord: 400 000 Menschen hatten sich am Ende – „einmal im Leben“ – die Genreszenen und rätselhaften Landschaften des flämischen Meisters angesehen.

Die Van-Eyck-Retrospektive Anfang dieses Jahres im Museum für Schöne Künste Gent war für Experten nicht minder spektakulär. Doch dass der Erfinder des spätmittelalterlichen Naturalismus jenseits von Kunsthistorikerkreisen die Massen begeistern würde, war auch für die Veranstalter eine Überraschung. Befeuert vom großen Medienecho und einem Instagram-Hype rund um das restaurierte, menschelnde Gesicht des Lamm Gottes, wurden 270 000 Tickets verkauft. Zwischen Anfang Februar und Mitte März hatten schon 130 000 Menschen vor den bewegend dreidimensionalen Gesichtern der „größten Van-Eyck-Ausstellung aller Zeiten“ Schlange gestanden.

Besucher Gemäldegalerie Wien © KHM-Museumsverband
Dicht gedrängte Besucher gehören der Vergangenheit an: die Gemäldegalerie im KHM Wien © KHM-Museumsverband

Dann kam Corona. Es ist gerade mal drei Monate her, dass das Genter Museum seine Türen schließen musste. Und doch mutet der Rummel dieser Ausstellung wie ein Reflex längst vergangener Zeiten an. Auch die Rückgabe von 140 000 Tickets für die Van-Eyck-Schau wirkt im Sommer 2020 wie das Trümmerfeld einer Gigantomanie von vorgestern. Inzwischen ist der Lockdown in vielen Teilen der Welt überstanden, die meisten Museen sind wieder geöffnet. Und doch ist nichts mehr so, wie es war.

Zweifel an der Event-Maschine Museum

Schon vor Corona gab es Zweifel an der Event-Maschine, zu der sich die Museen, die es sich dank Drittmitteln leisten konnten, entwickelt haben. Am Diktat der Superlative, das eben nicht nur den Kunstmarkt, sondern auch immer mehr Museen beherrschte. An der mangelnden Nachhaltigkeit, dem Verlust der Idee des Bewahrens, den schmalen Ankaufsetats im Kontrast zum enormen finanziellen Aufwand, Leihgaben aus aller Welt heranzuschaffen. Und auch das Bewahren selbst kam in Verruf. Spätestens seit dem Restitutionsreport von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr im Jahr 2018 hängt die dunkle Wolke kolonialer Verbrechen über den Sammlungen außereuropäischer Kunst. Von den vielen Raubkunstfällen aus ehemals jüdischem Besitz ganz zu schweigen, mit denen sich die Museen zu lange viel zu wenig auseinandersetzten.

Dennoch war das Jahr 2019 für viele europäische Museen ein sehr erfolgreiches. Besucherrekorde allerorten. ­Offenbar trafen sie den Nerv der Zeit und befriedigten ein Teilnahmebedürfnis vieler Menschen. Wie soll es weitergehen, wenn statt Wellenbrechern in der Warteschlange jetzt Wegmarken und hochnervöses Aufsichtspersonal auf die wenigen Besucher warten, die maskenbewehrt und nach strengen Regeln durch die Räume geleitet werden? Sabine Haag, Direktorin des KHM in Wien, erklärte jüngst in einem Interview, sie hätte ihr Haus am 30. Mai nicht aus wirtschaftlichen Gründen geöffnet. Denn die Kosten blieben gleich, egal ob täglich bis zu 4000 Leute kämen (wie in Vor-Corona-Zeiten) oder so wie jetzt nur 200. Vielmehr sei die Öffnung eine Geste an die Menschen, die Einladung zu einem intimen Dialog zwischen Besucher und Kunstwerk.

Vor einer Zeitenwende?

Vor allem im angloamerikanischen Raum, wo die wirtschaftlichen Verwüstungen der Krise die Museen noch mal deutlich härter treffen als in Deutschland oder Österreich, mehren sich die Stimmen, die eine grundsätzliche Neuorientierung fordern. „Das Museum, das wir geschlossen haben, wird nicht mehr das Museum sein, das wir öffnen“, sagt Madeleine Grynsztejn, die Direktorin des MCA in Chicago. Viele sehen das Ende der Ära der Blockbuster-Ausstellungen gekommen und auch ein Scheitern der Idee des Universalmuseums, das an wenigen ­Orten in der Welt zentrale Kulturgüter der Menschheitsgeschichte versammelt.

Wenn jede Krise auch eine Chance bedeutet, stehen die Museen möglicherweise an einem wichtigen Wendepunkt in ihrer Geschichte. Hatten sie lange vor allem das nationale und internationale Publikum im Blick, ist nun die Hinwendung zur lokalen Bevölkerung gefragt. Wie lässt sich ein Museum in einer Gemeinde, einer Stadt verankern, wie tritt es in Dialog mit den Bürgern, und zwar quer durch alle Schichten? Lag das Heil bis vor Kurzem noch darin, Leihgaben durch die Welt zu schiffen, sollten sich die Museen nun ihrer eigenen Sammlung zuwenden und aus ihr die Geschichten schöpfen, die mit unserer Wirklichkeit korrespondieren. Dazu gehört auch die kritische Selbstbetrachtung zur Provenienz und zur Ausbildung eines Kanons. „Mapping the Collection“ heißt die neueste Schau des Museums Ludwig, das schon länger das eigene Sammlungskonzept hinterfragt und dabei etwa unterschätzte Werke afroamerikanischer Künstler in den Fokus rückt.

Die Museen sollten ihren Reichtum nutzen und neue Wege einschlagen. Und nicht darauf hoffen, irgendwann, nach dem nahen oder fernen Ende der Krise, wieder zur Tagesordnung überzugehen.

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Weltkunst Nr. 173

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