Ulrike Theusner

Ein Tag wie gemalt

Im idyllischen Weimar schafft Ulrike Theusner ihre weltweit gefragten Bilder. Per Fahrrad waren wir mit ihr in der Stadt unterwegs, zu Brunnen, Arabesken und Goethes Gartenhaus

Von Lisa Zeitz
11.09.2025
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 244

Im Schillerzimmer prangen Verse aus Schillers „Huldigung der Künste“, die der Dichter 1804, ein halbes Jahr vor seinem Tod, der jungen Maria Pawlowna widmete: „Mich hält kein Band, mich fesselt keine Schranke, frei schwing’ ich mich durch alle Räume fort. Mein unermesslich Reich ist der Gedanke, und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort.“ Mit diesen Zeilen verlassen wir das Schloss. „Die Grotesken der Dichterzimmer wirken durch die Schlossmauern durch“, sagt Theusner, als sie ihr Fahrrad aufschließt. Ist das die Erklärung für die Masken und Putti in ihren Bildwelten? Auf dem Katalog ihrer Ausstellung „Schattenseiten“, die bis 17. August im August Macke Haus in Bonn läuft, leuchtet auf dem Cover ihr geheimnisvolles „Selbstporträt mit Maske“.

Unser geflügelt Werkzeug ist heute das Fahrrad, und ich muss mir erst noch eins ausleihen. Das lässt sich unkompliziert am Markt erledigen, wo Theusner übrigens ganz oben in einem der alten Stadthäuser wohnt. In der Tourismusinformation bekomme ich für 18 Euro Tagesgebühr einen Schlüssel, abholen kann ich mir das Rad gegenüber auf dem Parkplatz des Hotels Elephant. In diesem Gasthaus tafelten einst unsere Dichter Wieland, Herder, Schiller und Goethe, später auch Richard Wagner, Walter Gropius, Oskar Schlemmer und viele andere. Trotzdem wurde das alte Hotel in den Dreißigerjahren abgerissen, um einem Neubau Platz zu machen. „Das ist der ‚Führerbalkon‘“, sagt Theusner und weist nach oben, „den sehe ich immer von meinem Fenster aus.“ Vierzigmal war Hitler hier zu Gast. Thomas Mann hat hier auch gewohnt, als er 1955 zur Schillerwoche zu Besuch kam. Und Theusner hat Künstlerfreunde, die diese spezielle Suite gemietet haben, um sich auf dem Balkon zu betrinken und dem Ort den Teufel auszutreiben. Wie zu diesem Zweck geschaffen wirkt auch die Wurstbude mit einer riesigen „Thüringer“ auf dem Dach.

Ein Gemälde von Ulrike Theusner
Ulrike Theusners Arbeit „Looking back“ von 2025 ist noch bis zum 25. Oktober in der Galerie EIGEN + ART in Berlin zu sehen. Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin

Am nahe gelegenen Frauenplan bestellen wir bei der Brotklappe, Theusners Lieblingsbäckerei, Kaffee und ein Stück Zitronenbaisertorte. Jeden Morgen – oder sagen wir lieber, am Vormittag, denn sie ist eigentlich ein Nachtmensch – holt die Künstlerin sich hier auf dem Weg ins Atelier ihr Frühstück. Es ist warm, wir sitzen an einem der Tische draußen und haben den Frauenplan im Blick, an dem ein paar Häuser weiter Goethe fünfzig Jahre lang gelebt hat. Nach ihm ist in Weimar besonders viel benannt, siehe „Goethes Schokolädchen“ gleich gegenüber. Noch vor ein paar Jahren warteten hier für die Touristen Pferdekutschen, jetzt sind sie aus Gründen des Tierschutzes verschwunden. Stattdessen gibt es sogenannte E-Kutschen mit zehn PS in betont historischer Aufmachung. Vorne sitzt immer noch ein Kutscher mit Zylinder, ohne Peitsche und Zügel, aber mit Lenkrad in den Händen.

Wollen wir weiter? „Nor“, sagt Theusner, das ist Thüringisch für „ja“. Also steigen wir auf unsere Räder und fahren zum Historischen Friedhof. „Auf diesem Friedhof liegt alles, was Rang und Namen hat“, erklärt sie, „Geheimräte und ihre Köche, die Crème de la Crème von Weimar.“ Wir schieben die Räder auf der Allee zur Fürstengruft. Dieses klassizistische Mausoleum wurde im Auftrag von Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach errichtet. Dahinter ragen die Zwiebeltürme der später für seine Schwiegertochter Maria Pawlowna erbauten russisch-orthodoxen Kapelle auf. „Sie haben für sie sogar extra russische Erde nach Weimar gebracht.“

In der Fürstengruft stehen seit 1832 die Särge von Goethe und Schiller neben denen der Herzogsfamilie. Schillers Sarg ist jedoch leer. Als er 1805 starb, wurde er ohne großes Aufsehen begraben. Zwanzig Jahre später sollte er einen würdigeren Begräbnisort bekommen, aber es war nicht mehr möglich, sein Skelett zu identifizieren. Goethe, so heißt es, ließ sich rund zwei Dutzend Totenköpfe in sein Zimmer tragen, um die Schädelformen mit Schillers Totenmaske zu vergleichen. Der ebenmäßigste, der noch alle Zähne hatte, wurde ausgewählt. Ein Jahr lang soll Goethe den vermeintlichen Schiller-Schädel auf seinem Tisch behalten haben. „So einen Totenkopf von einem guten Freund auf den Schreibtisch stellen“, sagt Theusner, „so etwas würde ich auch machen, ich bin ja so morbide.“ Im 21. Jahrhundert haben Analysen ergeben, dass die Knochen, die schließlich in der Fürstengruft beigesetzt wurden, nicht von Schiller stammten, sondern von lauter anderen Menschen.

Wie gemalt biegen sich die hohen Gräser auf dem Friedhof. Auf die Frage, ob Weimar auch als Motiv in ihrer Kunst auftaucht, schüttelt sie allerdings den Kopf. „Hier ist es einfach zu hübsch. Ich brauche eher so einen ollen New Yorker Hinterhof, ich brauche Inspiration aus Großstädten. Wenn Weimar als Motiv, dann Bäume.“ Wir bleiben neben einer uralten Eiche stehen und blinzeln nach oben.

Die Fahrradtour durch den Park an der Ilm mit Ulrike Theusner und Lisa Zeitz
Die Fahrradtour durch den Park an der Ilm. © Foto: Nora Klein

Als sie in Weimar in der ersten Klasse war, gab es die DDR noch. Die Künstlerin erzählt, dass sie sogar gerade noch bei den Jungpionieren war. Zur Demonstration führt sie zackig militärisch die Hand zur Stirn: „Ich melde, die Klasse 1a ist vollständig zum Unterricht bereit.“ Nach der Schule studierte sie für drei Jahre an der École des Beaux-Arts in Nizza, bevor sie ihr Kunststudium an der Bauhaus-Universität abschloss. Sie arbeitete als Fotomodell in New York, lebte in Leipzig und Berlin und verlegte ihren Lebensmittelpunkt dann wieder nach Weimar. Ihr Studio hat sie seit Jahren gleich gegenüber der Fürstengruft. „Erbaut 1904 und damit das älteste Atelierhaus in Deutschland“, glaubt sie. Es gehört der Stadt, sie muss nur 350 Euro Miete zahlen. Im Treppenhaus hängen Ausstellungsplakate der Künstlerinnen und Künstler, die hier arbeiten. Im Keller gibt es eine historische Druckwerkstatt, die noch funktioniert. Ihr Atelier liegt unter dem Dach. Tageslicht fällt von oben und von drei Seiten auf ihre Bilder in verschiedenen Stadien der Vollendung und auf eine wohlgeordnete Fülle von Papierrollen, Leinwänden, Mappen, Stiften, Pinseln, Acrylkreiden und anderen Künstlermaterialien, daneben ein Trampolin, ein Sofa zum Hineinversinken, ein Kühlschrank – »Cremant?« –, Dosen von Ölsardinen, auf die sie manchmal einfach Lust hat, und dickblättrige Topfpflanzen.

Theusners Stil lebt von ihren vielen, einzeln sichtbaren, schillernden bunten Strichen. So erhält ihre Malerei einen zeichnerischen Charakter, und es entsteht ein flirrender, flüchtiger, bisweilen nervöser Eindruck. Mit ihren fluiden Konturen wirken die Menschen verletzlich und manchmal geisterhaft, aber auch den Bäumen scheint die Vergänglichkeit eingeschrieben. Als Untergrund nutzt sie für ihre großen Werke „die dünnste Leinwand, die es überhaupt gibt, sie ist fast wie Papier“. Die Farben trägt sie mit einer ganz individuellen Mischtechnik auf. „Erst einmal Acryl, dann Pastell, und dann mache ich mit Öl daran herum.“ Auf einem Bild hat sie einen Wald gemalt, den sie in Südkorea gesehen hat, als kürzlich in der Foundry Seoul ihre Ausstellung „Sweet Bird of Youth“ stattfand. „Gerade weil Seoul so eine riesige Stadt ist, habe ich automatisch Ruhepole gesucht, wie ich es auch in Weimar tue. In Manhattan gehe ich in den Central Park, in Brooklyn in den Prospect Park. Ich brauche die Natur.“

Ulrike Theusner
Ulrike Theusner, „Passagiere der Nacht“, 2025. Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin

Einige der Pastellzeichnungen und Monotypien, an denen sie gerade arbeitet, werden ab September zur Berlin Art Week in ihrer Ausstellung „Passagiere der Nacht“ in der Galerie Eigen & Art zu sehen sein. Zu diesem Titel passen die androgynen Wesen, die auf der Wand gegenüber auftauchen. Eine Barfrau mixt ihren Cocktail mit „anxiety, vanity und ein paar anderen unangenehmen Zutaten, die das Leben würzig machen“. Die Barfrau hat Theusner im legendären New Yorker Hotel Chelsea fotografiert. „Da hängen die Fashion-Leute ab.“ Als es noch nicht renoviert war, hat sie dort einige Partys erlebt. „Da war es aber noch so richtig trashig“, erzählt sie. Sie geht weiter zum nächsten Bild: „Das ist Taylor, ein Freund aus New York. Ich habe ihm hier eine kleine krepelige Katze dazugegeben.“ Krepelig? „Ein bisschen sperrig, wie Taylor selbst“ Er habe eine ähnliche Weltsicht, deshalb zeichne sie ihn so oft, denn das sei fast wie ein Selbstporträt.

„Leute kommen in Großstädte, um ihrem Traum hinterherzujagen, sich abzulenken, sich kennenzulernen, sich zu entgehen. In einer kleineren Stadt dagegen ist man mit sich selbst konfrontiert.“ Theusner braucht für ihre Porträts immer eine Geschichte. Die findet sie in den Metropolen, „wo die Erwartungen der Leute mit der Realität zusammenprallen, wo Träume zerbrechen.“ Sie sauge alles auf wie ein Schwamm, „und wenn ich dann vollgesogen bin, muss ich nach Weimar. Da kommen nach und nach die Bilder heraus.“ Hier „im auratischen Weimar“ sei sie in einem Schwebezustand.

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