Notre-Dame

Der Hahn ist zurück

Nur fünf Jahre nach dem zerstörerischen Brand erlebt die Kathedrale Notre-Dame de Paris ihre Wiedergeburt. Ein Besuch auf Frankreichs bedeutendster Baustelle

Von J. Emil Sennewald
26.07.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 229

Als sich am 15. April 2019 der Himmel über der Île de la Cité orangerot färbte, weinten nicht nur die am Quai der Seine zusammengelaufenen Pariser Bürger. Die ganze Welt war erschüttert. So hoch wie die Bilderwelle wogte die Welle der Unterstützung: 340.000 Spender aus 150 Ländern gaben 846 Millionen Euro. Wegen Covid und Wetterlagen wurde die für den 15. April 2024 geplante Eröffnung auf den 8. Dezember 2024 verschoben, nach den Olympischen Sommerspielen. Der Termin wird wohl gehalten: Im Mai wurde der Schlussstein des Gewölbes am Kreuzungspunkt über dem Querhaus in 32 Meter Höhe gesetzt. Eine kolossale Leistung. Mit Eichenholz aus Wäldern, gezogen wie vor tausend Jahren, Sandstein aus denselben Brüchen, dem gleichen Mörtel, den gleichen Handwerkstechniken wie im Mittelalter ist die Baustelle architektonischer Forschungsgrund, archäologische Fundstätte, digitales Röntgenbild, verkörpert Exzellenz in Wissenschaft und Handwerk, menschliches Leistungsvermögen, Solidarität, Authentizität. Notre-Dame de Paris steht als Kulturdenkmal für Kontinuität, Zusammenhalt, Beständigkeit. Tausend Schichten aus Bildern, Literatur, Filmen, Vorstellungen und Fantasmen umgeben das Bauwerk, erheben es zum globalen Sinnbild, jedem vertraut. Welchem Gott dient diese Rekonstruktion? Auf der Suche nach Antworten besuchte unser Pariser Korrespondent die Baustelle, sprach mit Touristinnen und Touristen, Anwohnern, Experten – und mit Philippe Jost, dem Leiter des Wiederaufbaus.

Rückkehr des Symbols Notre-Dame

Paris, 15. Mai 2024: Es hämmert, es sägt, es bohrt hinter den Bauzäunen auf der Île de la Cité. In der Mitte erhebt sich aus einem Gerüstwald die Kathedrale von Notre-Dame in den Frühlingshimmel. Nur fünf Jahre nach dem verheerenden Brand, der dieses 861 Jahre alte Meisterwerk der Gotik schwer beschädigte, ist die vertraute Silhouette wiederhergestellt. Stolz ragt der 96 Meter hohe Vierungsturm empor, vom Architekten Eugène Viollet-le-Duc 1859 wiedererrichtet. Auf seiner Spitze thront wie ehedem der goldene Hahn. Noch ist die Erinnerung an die Entsetzensschreie lebendig, als die flèche im flammenden Mittelschiff versank. Damals wurde der Hahn später auf einer Grünfläche neben der Kathedrale gefunden. Das gallische Wahrzeichen überlebte den Brand – Präsident Emmanuel Macron, 2019 wegen seiner als antisozial und antisolidarisch empfundenen Reformpolitik unter Druck, nutzte den patriotischen Elan: Notre-Dame werde innerhalb von fünf Jahren wiederaufgebaut, dekretierte er kurz nach dem Brand.

Sofort wurde der willkürliche Zeitdruck heftig von Experten kritisiert. Das Gotteshaus zu den Olympischen Spielen wieder öffnen zu wollen setze die Qualität des Bauwerks aufs Spiel. Andere fanden den Versuch durchschaubar, die allgemeine Erschütterung zur Gemeinschaftsbildung in einer durch neoliberale Politik gespaltenen Gesellschaft zu nutzen. Die Kritik konnte den Wind, der sich aus den rauchenden Trümmern erhob, nicht aufhalten. Heute strahlt Notre-Dame in der Sonne als Monument für kollektive Leistung, für gekonntes Ineinandergreifen von Ingenieurswissen, Baukenntnis, Handwerk. Wer inmitten Hunderter Touristen hinaufblickt, sieht den Himmel hinter dem rekonstruierten Dachstuhl, auf dem hier und da neonorange Westen emsig werkeln, ein Schwarm Tauben fliegt auf, beflügelt vom auffrischenden Frühlingswind. Ohne Zweifel: Das ist mehr als eine enorme Baustelle, das ist eine alte Vertraute, ein mächtiges Familienmitglied unter den großen Symbolen der Weltkultur.

Der goldene Hahn auf dem Vierungsturm von Notre-Dame überstand den Brand wie durch ein Wunder
Der goldene Hahn auf dem Vierungsturm überstand den Brand wie durch ein Wunder. © Romaric Toussaint / Rebâtir Notre-Dame de Paris

Von der Kirche zur Romanfigur

Am Fuß der Kathedrale herrscht Alltag. Zwei Arbeiter verschweißen Gullideckel. „Sicherheit für Olympia“, bestätigt einer. Touristen laufen vor der Baustelle zusammen, ein Animateur erklärt die Vorzüge des französischen Baguettes, während die Grundschulkinder Teig kneten. Zum „Fest des Brotes“ wird in eigens aufgestellten Zelten dieses Weltkulturerbe vorgestellt. Die meisten Besucher blinzeln in den Himmel, während sie auf provisorisch errichteten Rängen in der Sonne sitzen. „Wir sind nur hierhergekommen, um sie mal zu sehen“, sagt eine amerikanische Touristin aus Connecticut, mit ihrem Freund aus Boston auf Europatour. Für nur einen Tag in Paris, gehöre dieses Monument dazu, „auch weil wir wissen wollten, wie es aussieht nach dem Brand“. Über die Baustelle, den Aufwand, den Zeitdruck oder die religiöse Bedeutung wissen sie wenig: „Es gehört halt zu Paris wie der Eiffelturm“, erklären die beiden und zucken die Achseln. „Schade, dass wir noch nicht rein können.“ Ungeduld, endlich wieder ins Gotteshaus zu können? Unter den Touristinnen und Touristen finden sich wenig religiöse Motive. Was aber treibt sie hierher, was wollen sie im Handy mit nach Hause tragen? Auch die Geschichte des Baus scheint nicht entscheidend. „Ich kenne die Kathedrale vor allem aus den Filmen um den Glöckner von Notre-Dame“, sagt ein niederländischer Tourist aus Leiden, „und bin gekommen, um die Wasserspeier zu sehen.“

Diese starren wie ehedem, inzwischen frisch gereinigt, aus den beiden Ecktürmen des Kirchengebäudes. Seit Victor Hugo 1831, unter anderem um für den Erhalt des vernachlässigten, teils geplünderten Bauwerks zu werben, den Roman „Notre-Dame de Paris“ publizierte, ist das nicht mehr nur einfach eine Kirche. Es ist eine Bühne der großen Gefühle. Am deutlichsten wird dies im an das Buch angelehnten Disney-Zeichentrickfilm „Der Glöckner von Notre Dame“ von 1996. Hier werden Gebäude und Wasserspeier zum emotionalen Zentrum affektgeleiteter Unterhaltung.

„Ich bin Katholik und Pariser“

Ob es nicht das Risiko einer Disneyfizierung gebe, fragen wir Philippe Jost, den obersten Baustellenleiter, wenn die Kathedrale wie aus dem Ei gepellt dasteht, wie das Berliner Stadtschloss irgendwie künstlich, seelenlos. „Das ist nicht vergleichbar, Notre-Dame blieb in der Silhouette und in seiner Substanz erhalten, das Stadtschloss war völlig verschwunden. In Frankreich gibt es darüber keine Debatte, unser Leitbild ist Authentizität. Unser Ziel ist es, den Menschen Notre-Dame so zurückzugeben, wie sie sie lieben und kennen.“ Der hochgewachsene grauhaarige Mann mit der basstiefen Stimme und, wie er betont, Wurzeln im Elsass, daher einer gewissen Nähe zu Deutschland, übernahm die Stelle von seinem Vorgänger General Jean-Louis Georgelin. Von Emmanuel Macron als Baustellenleiter eingesetzt, kam Georgelin im August 2023 bei einem Wanderunfall in den Pyrenäen ums Leben. Die Rede, die Jost zur Beisetzung hielt, beschwor „die große Familie von Notre-Dame de Paris“.

„Ich bin Katholik und Pariser“, erwidert Jost auf die Frage, was Notre-Dame für ihn darstelle. „Das ist meine Kirche, eines der wichtigsten Kirchengebäude für den Marienkult. Hier wird eine der wertvollsten Reliquien, die Dornenkrone, aufbewahrt. Zugleich gehört es zu den bedeutendsten historischen Monumenten der Welt, verkörpert die französische Nation.“ Auf die Befürchtung, das Baudenkmal werde eine reine Touristenattraktion, die den christlichen Kult verdränge, reagiert Philippe Jost mit Kopfschütteln. „Das ist nicht zu befürchten, die Beziehung der Menschen zu Notre-Dame – seien es Pilger oder Besucherinnen – ist sehr authentisch, sie sind dem Gebäude verbunden wie einer Person.“ Das sei „etwas Selbsterklärendes, Pures, Ehrliches. Verstehen Sie: Dieses Gebäude spricht intuitiv Hirn, Herz und Bauch an.“ Tut das nicht auch ein Disneyfilm? Noch etwas anderes muss die enge Bindung an diese spezielle Kirche erklären.

Die Rekonstruktion des hölzernen Dachstuhls von Notre-Dame
Die Rekonstruktion des hölzernen Dachstuhls. © David Bordes / Rebâtir Notre-Dame de Paris

Eine neue Gemeinschaft?

„Der Brand hat eine verunsicherte, gespaltene Gesellschaft für einen Moment wieder geeint, das macht mich glücklich“, sagte Monseigneur Laurent Ulrich, Erzbischof von Paris, dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Gemeinschaftsbildung wirkt übergreifend: „Ich bin Muslimin, französischer Nationalität, in Algerien geboren“, schrieb eine Bewohnerin aus Metz an die hauseigene Stiftung, eine von vieren, die Geld für den Wiederaufbau sammelt, „doch vor allem bin ich Französin im Herzen, und deshalb wünsche ich mir, dass Notre-Dame wieder aus der Asche aufersteht.“ Die Kathedrale wird zum Symbol für eine in Frankreich bereits nicht mehr für möglich gehaltene Nationalgemeinschaft. Ein Erinnerungszeichen, wie einst das „Symbolon“, ein Medaillon mit dem Hauswappen, das nach römischer Sitte zerbrochen wurde, wenn ein Familienmitglied auf Reisen ging. Nach der Rückkehr bedeutete das Zusammenfügen der Teile die Wiedereingliederung in die Familie. „Familie“ ist ein Begriff, der in der umfangreichen Dokumentation der Baustelle oft vorkommt, dem Bauwerk „verwandt“ fühlen sich viele der Spenderinnen und Spender, der Besucherinnen und Besucher.

Auch deshalb wurde der Geberwettstreit von Frankreichs Luxusmilliardären von vielen als obszön empfunden. Erst warf François Pinault 100 Millionen in den Topf, dann überbot ihn Bernard Arnault mit 200 Millionen. Die Protzerei der Luxusunternehmer, deren Businessmodell auf symbolischer Sogwirkung beruht, wurde besonders im Kunstfeld als weltfremd, fern menschlicher Verbindlichkeit empfunden. Statt großer Gesten wünschen viele Menschen konkretes Handeln besonders der sogenannten „kleinen Leute“, ein gemeinsames Ziel. Das entspreche auch dem enorm positiven Echo, das die Baustelle auf allen medialen Kanälen erhält, sagt Philippe Jost. Letztlich sei die gemeinsame Aufgabe den Menschen geschuldet, die an dieser Kirche hängen. „Die kollektive Leistung, möglich geworden durch den menschliche Faktor und die Bindung zwischen allen Mitwirkenden, steht im Vordergrund. Das Monument verkörpert diesen gemeinsamen Einsatz für ein klares Ziel, dahinter treten Wettbewerb und Konkurrenz zurück.“

340.000 Spenderinnen und Spender

Die enorme Leistung, dank der die 1163 begonnene Kathedrale bereits nach 87 Jahren als damals größtes gotisches Bauwerk in Betrieb genommen werden konnte, ist für viele das Hauptmotiv ihrer Bewunderung. „Ich liebe Kirchengebäude“, sagt mir ein Tourist aus dem tschechischen Ostrava. „Sie sind Monumente menschlicher Leistung, einer Kulturgeschichte, und hier speziell französisches Kulturerbe.“ Er sei schon oft in Paris gewesen, sagt er, die Kamera in der Hand, immer wieder komme er her, „wegen der Schönheit des Gebäudes – so etwas könnte einer allein nie erschaffen, es macht auch demütig.“ Dazu passt die hohe Zahl der 340.000 Spenderinnen und Spender. „Der größte Teil sind Einzelpersonen, die bis 1000 Euro geben“, berichtet Philippe Casset, Generalsekretär der zuständigen öffentlichen Einrichtung zum Wiederaufbau von Notre-Dame.

Die eigens publizierte Zeitschrift La Fabrique de Notre-Dame dokumentiert detailliert Restaurierung, Akteure und Spender. Darin berichtet Ségolène Stutz, Praktikantin bei der Stiftung der Kathedrale, von „sehr emotionalen Reaktionen. Die Leute am Telefon hatten das Bedürfnis zu reden, legten ihren Schecks teils seitenlange Briefe bei.“ Menschen erzählen von ihrer persönlichen Bindung an den Bau. Er sei „ein bisschen wie ein alter Bekannter, dessen Gegenwart man gewöhnt ist und dessen Bedeutung man erst merkt, wenn er gestorben ist“, sagt Stutz. Dieser Kirchenbau wird behandelt, als ob er lebt, atmet, wirkt: Der Kunsthistoriker und Theologe Jean-Paul Deremble zögert in der dreiteiligen Arte-Dokumentation zur „Jahrhundertbaustelle“ nicht, mit Anspielung auf die urkirchliche Pfingstgemeinde den Bau als organisches Ganzes zu beschreiben, das in seiner Fragilität eigentlich zusammenstürzen müsste, aber durch die Harmonie widerstrebender Kräfte Elastizität und Standhaftigkeit erhält.

Im Land des Savoir-faire

Jenseits solch mythischer Aufladung des Kirchenbaus dient die Baustelle im heutigen Frankreich aber noch einem anderen Gott. Die Rekonstruktion verkörpert Frankreichs Exzellenz im Handwerk. Philippe Jost: „Aus allem spricht die Handarbeit, auch das ist authentisch, das Korn des bearbeiteten Sandsteins, die handgearbeiteten Eichenbalken, die Kirchenfenster, von denen keines durch den Brand zerstört wurde und von denen vier durch die Werkstätten des Kölner Doms gereinigt wurden. Ganz oben für uns stand der Respekt für die Authentizität des Gebäudes.“ Frankreich gilt international als das Land des Savoir-faire, des Könnens. Das hat man verstanden, kapitalisiert es nun: Gerade wurde das 135 Jahre alte Nationalinstitut der Kunsthandwerke, das über Erhalt und Vermittlung wacht, in Institut für französisches Können umbenannt. Unternehmensstiftungen wie die von Hermès investieren große Summen in Ausbildung und Pflege teils jahrtausendealten Handwerks. Die Mode- und Luxusindustrie des Landes beruht auf diesem Ruf.

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