Notre-Dame

Der Hahn ist zurück

Nur fünf Jahre nach dem zerstörerischen Brand erlebt die Kathedrale Notre-Dame de Paris ihre Wiedergeburt. Ein Besuch auf Frankreichs bedeutendster Baustelle

Von J. Emil Sennewald
26.07.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 229

Insofern ist Notre-Dame de Paris Aushängeschild sowohl für die gelungene Zusammenarbeit der Gewerke als auch für die Führungsrolle im Erhalt des Guten, Alten, Preziösen. Das führte, neben dem Widerstand des Nationalarchitekten Philippe Villeneuve, zur Absage des von Premierminister Édouard Philippe am 17. April 2020 ausgerufenen internationalen Architekturwettbewerbs. Auch Emmanuel Macron, der sich zu Beginn noch für eine „zeitgenössische Geste“ als Neuversion des Vierungsturms erwärmen konnte, änderte seine Haltung. Im Juli 2020 wurde beschlossen, die berühmte, „La flèche“ genannte Spitze identisch zu rekonstruieren. Die beschworene Authentizität einer mittelalterlichen Urform ist allerdings selbst fiktiv: Der historistische Architekt Eugène Viollet-le-Duc hatte den Vierungsturm, im 18. Jahrhundert wegen Baufälligkeit abgenommen, wieder aufsetzen lassen, nicht um „zu erhalten, zu reparieren oder zu erneuern, sondern das Gebäude in einen Zustand zu versetzen, der vielleicht nie bestanden hat“. Frankreichweit ließ Viollet-le Duc in diesem Sinne Baudenkmäler, auch die Basilika in Saint-Denis, unter Einsatz damals zeitgenössischer Techniken „rekonstruieren“ – im Dienste nationaler Identität. „Ich spreche lieber von Authentizität“, kommentiert Philippe Jost. „Das bedeutet, eine Eigenheit, eine Persönlichkeit, in diesem Fall eines außerordentlichen Baudenkmals, zu respektieren, sie nicht zu verbiegen oder zu verfälschen.“

Großes Forschungsprojekt

Diese Treue zum – retrospektiv konstruierten – Original erzeugte nie da gewesene Untersuchungen, das nationale Wissenschaftszentrum CNRS spricht vom „Notre-Dame der Forschung“. Nie zuvor wurde die Struktur der Kathedrale porentief erforscht, man würde ein intaktes Gebäude kaum anbohren, um Gesteins- oder Mörtelproben akribisch zu analysieren. Jetzt produziert die Baustelle als archäologische Grabungsstätte, Schauplatz für forensische Materialkunde, Statik-, Stein-, Metall-, Holzforschung enorme Datenbanken, die weltweit zum Erhalt von Baudenkmälern werden beitragen können. Auf Chor und Hauptschiff des Gebäudes arbeiten derzeit die Dachdecker. Der Dachstuhl war Anfang März nach mittelalterlichem Vorbild fertiggestellt worden. Die verkohlten Stängel des „Waldes“, wie der aus tausend Eichen konstruierte Dachstuhl genannt wird, wurde von Experten Stück für Stück abtransportiert, analysiert, fotografiert, digitalisiert. Jeder verkohlte Eichenstamm hat heute ein identisches 3-D-Double, anhand dessen bestimmt werden kann, woraus und wie er gemacht war.

Spezialisierte Zimmerleute konnten identifizieren, dass solche Stämme in einem Forst im südfranzösischen Tarn, wie vor fast tausend Jahren üblich, aus Stümpfen dicker Eichen wachsen. Eng beieinander, mit wenig Seitenästen. Entgegen vehement geäußerter ökologisch besorgter Kritik, für Notre-Dame würden tausendjährige Eichen gefällt, erkannten sie, dass schon damals junge Bäume verarbeitet wurden. Nach nur 50 bis 60 Jahren Wachstum bringen sie die Elastizität mit, die den enormem Winddruck ausgesetzten Dachstuhl schon vorher über die Jahrhunderte stabil hielt. Zudem musste das Gewicht stimmen, das auf die Mauern drückt. Die waren, wie das Team aus Statikern und Steinspezialisten feststellte, nach dem Brand nicht etwa wegen der Flammen fragil, sondern weil das notwendige Gewicht fehlte, das die nur 60 Zentimeter dicken Steine haltbar zusammenpresst. Weitere Forschungen fanden den Grund für deren Standhaftigkeit im mittelalterlichen Kalkmörtel, der Druck besser ableitet als Zementmörtel. All dieses Wissen, das mit Hochtechnologie in atemberaubend kurzer Zeit erhoben und angewandt wurde, dient Hunderten Fachkräften aus Gerüstbau, Zimmerhandwerk, Mauerbau, Bildhauerei, Restauration, Schreinerei, Orgelbau, Metallbau, Glaskunst und unzähligen anderen Gewerken aus allen Ecken Frankreichs, getragen von über 250 mittelständischen Unternehmen, dazu, Notre-Dame zu rekonstruieren. Wie damals die Erbauer der Kathedrale erbringen sie eine große Leistung – in extrem kurzer Zeit. Das soll Sinnbild einer großen Nation, Vorbild für ihre Jugend sein.

Eine sportliche Herausforderung

„Für die Baustelle war die ehrgeizig gesetzte Frist eigentlich eine große Hilfe. Das vom Staatspräsidenten gesetzte Ziel, die Kathedrale 2024 wiederzueröffnen, hat nachhaltig Motivation geschaffen“, erklärt Philippe Jost. „Natürlich verängstigte das am Anfang viele, in nur fünf Jahren diese Leistung erbringen zu sollen. Doch es war nötig, um alle zu mobilisieren, um sich zu konzentrieren. Eine wertvolle Spannung, eine sportliche Herausforderung. Wissen Sie, die Kathedrale ist natürlich schön, aber sie ist kein Traum, sie ist sehr konkret, besteht aus Material, Wissen, Engagement. Das Ganze funktioniert nicht wie eine Maschine, sondern eher wie ein organisches Miteinander vieler verschiedener Menschen.“ Auf die Frage, wie er die unvermeidlichen Konflikte regelt zwischen rund 2000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über fünf Jahre, darunter 500 Gesellen, Kunsthandwerker und Spezialistinnen, die kontinuierlich auf der Baustelle arbeiten, setzt Jost auf Vertrauen: „Wir suchen nicht sofort nach Schuldigen, wenn es Probleme gibt, oder rufen nach Anwälten. Wir setzen uns zusammen.“

Die „Renaissance der Kathedrale“ werte Engagement und Kompetenzen der verschiedenen Gewerke und Disziplinen auf und diene auf diese Weise der Vermittlung und Ausbildung. „Für uns sagt die Baustelle auch: Schaut, was für ein großartiges Abenteuer auf euch wartet, wenn ihr euch voll in einem dem Kulturerbe verbundenen Beruf einbringt, wenn ihr seht, wie viel exzellentes Können es gibt und wie befriedigend es ist, etwas Konkretes mit den eigenen Händen zu erschaffen.“ Beziehe man den kooperativen Einsatz der Gewerke in diesen Gedanken mit ein, stellt sich gar die Frage: Könnte Notre-Dame ein Symbol des heute im Kunsthandel teils beschworenen anderen Wirtschaftsmodells werden, einer solidarischen, „weichen“ Form des Handels, wie sie einst Montesquieu vertrat? „So weit würde ich nicht gehen“, sagt Philippe Jost. „Für mich ist die menschliche Bindung wesentlich, die Fähigkeit, nicht jede Leistung aufzurechnen, die Ärmel hochzukrempeln. Das sollte die Lehre sein, die wir aus diesem Wiederaufbau ziehen: dass es möglich ist, wenn alle zusammenhalten, gemeinsam das Ziel zu erreichen.“

Restaurierung für Frankreich?

Emmanuel Macron beschwört immer wieder das Frankreich von einst, empfängt Staatsgäste in den historischen Monumenten und verweist auf die Größe einer Nation, die es zugleich so nicht mehr gibt und die nicht zuletzt durch seine Politik immer weiter auseinandergetrieben wird. Aus diesem Grund bezeichnen viele seine Softpowerpolitik als restaurativ. Mit der Auflösung der Nationalversammlung nach der Europawahl und dem überraschenden Ergebnis ist Macrons politische Zukunft noch immer ungewiss. Notre-Dame bündelt dennoch Wünsche und Träume, damals wie heute. Und trotz Kritik an der ökologisch problematischen Wiederverwendung von Blei: Die Rekonstruktion dieser Kathedrale ist ein unvergleichbares Werk.

Ob sie auch dabei hilft, den Zusammenhalt der Gesellschaft über die sozialen Brüche hinweg zu restaurieren oder das Christentum aufzuwerten in einer Zeit, da vom „Zusammenbruch“ der katholischen Kirche die Rede ist, darf bezweifelt werden. Kritiker befürchten eher eine Ernüchterung: einmal fertiggestellt, werde man merken, dass die Kathedrale für eine Hoffnung steht, die von der Politik immer nur enttäuscht wird. Sicher ist, dass Notre-Dame de Paris als Symbol fester im Bewusstsein der Welt verankert ist als vor dem Brand. „Ich finde es wichtig, dass dieses Symbol erhalten bleibt“, sagt eine italienische Studentin, die nach einem zweijährigen Paris-Aufenthalt auf dem Rückweg nach Neapel in der Sonne noch einen Abschiedsblick auf Notre-Dame wirft. „Ohne gläubig zu sein, empfinde ich dieses Gebäude wie einen Ankerpunkt. Etwas, das Vertrauen gibt.“

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