Venedig-Biennale 2024

Aus der Sicht des Löwen

Wenn in Venedig die Biennale eröffnet, sind Walton Fords jüngste Bilder in der Bibliothek des Ateneo Veneto zu sehen. Er hat sich von Tintorettos „Vision des Heiligen Hieronymus“ inspirieren lassen und imaginiert die Legende neu. Ein Atelierbesuch in New York

Von Lisa Zeitz
16.04.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 225

Nach der Lektüre der Legende kamen ihm Traumbilder von einem blutigen Löwenmaul

„Riechen Sie das?“ Walton Ford hält inne. Vom Eingang her zieht ein Marihuana-Schwaden ins Atelier. Seit zwei Jahren ist der Konsum in New York legal und der Geruch beim Spaziergang durch die Stadt allgegenwärtig. „Es ist witzig, ausgerechnet vor meiner Haustür werden jeden Tag Joints geraucht. Ich bin seit zwölf Jahren nüchtern!“ Er lacht, und kommt wieder auf Hieronymus zu sprechen, der ihm ein Inventar an Motiven beschert hat: Bücher, denn der Kirchenvater hat die Bibel ins Lateinische übersetzt, den Esel, den Löwen, die Dornen und einen Totenkopf als Memento mori. Nach der Lektüre der Heiligenlegende kamen ihm Traumbilder von einem blutigen Löwenmaul, brennenden Büchern und einem Löwenschädel, die er „ungefiltert“, sagt er, in seine Kunst übertrug.

Er zeigt auf dem iPad ein schon vollendetes Hochformat, auf dem der Löwe mit Büchern beladen ist. Ähnlich wie der Heilige auf Tintorettos Gemälde blickt das Tier gen Himmel. „Der Löwe hat nun eine Vision, aber wir können sie nicht sehen.“ Dieses Werk soll zusammen mit Tintorettos Gemälde installiert werden, Rücken an Rücken, als wären sie Vorder- und Rückseite einer Tafel. „Warum ich nicht Brennholz, sondern brennende Bücher gemalt habe, kann ich nicht sagen. Vielleicht symbolisieren sie die menschliche Kultur. Vielleicht stehen sie für all den Quatsch, der jemals über Löwen geschrieben wurde. Der größte Feind des Löwen ist das, was wir über ihn denken. Wir sind das Problem der Löwen, unsere Obsession. Wir schauen uns das Musical ‚Lion King‘ an, wir verfolgen sie auf Safaris mit Kameras und Range Rovers, wir jagen sie, wir haben sie ins Kolosseum gebracht, wir haben viele Unterarten des Löwen ausgerottet. Wir sind von ihnen besessen.“

Walton Fords Vision des Löwen steht in Venedig im Dialog mit Tintorettos Marienvision des Heiligen Hieronymus
Walton Fords Vision des Löwen © Courtesy of the artist and Kasmin, New York, Foto: Charlie Rubin

Diese Idee schwingt für ihn auch bei seinem Bild „Phantom“ mit, auf dem er den Löwen in monumentalem Format als Geist in blassen Farben gemalt hat. In der japanischen Malerei, erläutert er, sei es Tradition, die Füße von Geistern auszublenden, so sei er auf den Nebel gekommen. „Er ist ein Geist, nur das Buch in seinem Maul ist echt. Blutet das Buch? Oder ist das Maul blutig, weil er Hieronymus getötet hat? Für den Löwen ist das Buch etwas Unheilvolles.“ Ein Symbol für die Zivilisation? Ford will sich nicht festlegen.

Liebesakt oder Mittagsmahl? Der Entwurf für Esel und Löwe lässt die Frage offen. Eine Schau mit Fords Skizzen zeigt die New Yorker Morgan Library ab Mitte April. In Venedig wird der Löwe als „Phantom“ zu sehen sein.
Liebesakt oder Mittagsmahl? Der Entwurf für Esel und Löwe lässt die Frage offen. Eine Schau mit Fords Skizzen zeigt die New Yorker Morgan Library ab Mitte April. In Venedig wird der Löwe als „Phantom“ zu sehen sein. © Fotos: Maria Spann

Die italienische Kunstgeschichte hat Walton Ford schon seit seinen Studienjahren beeinflusst

Neben Tintoretto gehören zur Dekoration des Palazzo San Fantin noch weitere, weniger prominente venezianische Gemälde. Im Dunkel des Raumes möchte der Künstler nun Spotlights auf alle in den Werken dargestellten Tiere richten. Die italienische Kunstgeschichte hat Walton Ford schon seit seinen Studienjahren beeinflusst. An der Wand neben dem Sofa hängt eine Grafik von John Ruskin, die Giottos „Traum des Joachim“ wiedergibt. Giotto war für Walton Ford ein Erweckungserlebnis. Er holt aus und erzählt von seiner Jugend in den Siebzigerjahren in Croton im Staat New York, was für ein schlechter Schüler er war, wie schwer ihm manche Dinge gefallen sind, was für ein außergewöhnliches Zeichentalent er aber schon als kleines Kind hatte. Sein älterer Bruder Flick besaß John James Audubons „Birds of America“, und beide Kinder malten Tiere wie besessen.

Als Teenager schwänzte Ford die Schule, verbrachte seine Zeit lieber zeichnend oder mit Freundinnen, mit Drogen und in den Wäldern. Ein Sommerkurs an der renommierten Rhode Island School of Design „rettete mein Leben. Wer weiß, vielleicht wäre ich sonst im Gefängnis gelandet.“ Hier wurde sein Talent erkannt, er war motiviert, seinen Abschluss an der Highschool zu machen, und studierte anschließend Kunst und Film. Besonders prägend war ein RISD-Semester in Rom, das er zusammen mit seiner späteren Frau absolvierte. Exkursionen führten durch ganz Italien. „Für einen amerikanischen Jugendlichen wie mich war es umwerfend, all das zu sehen“, sagt er.

Er kannte die palladianische Villa Monticello, die Thomas Jefferson in Virginia gebaut hatte, aber nun bekam Ford im Veneto die originale Architektur von Palladio zu sehen – und in Rom die antiken Bauwerke, die wiederum Palladio inspiriert hatten. Am allermeisten jedoch beeindruckte ihn die Malerei des Trecento, die narrativen Freskenzyklen von Giotto in Assisi und Padua. „Später zelebriert Michelangelo die Anatomie und den männlichen Körper. Giotto hatte zwar ein gewisses Interesse daran, wie Dinge in der Natur aussehen, aber es geht vor allem um das spirituelle Erlebnis.“ Gerade weil Walton Ford die biblischen Geschichten kaum kannte, übten sie einen Zauber auf ihn aus: „Kryptisch, so wollte ich malen.“

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