Die kalifornische Künstlerin Corita Kent war eine katholische Nonne und Aktivistin, in Amerika genießt ihre Pop-Art heute Kultstatus. Ein neues Buch feiert erstmals ihre erstaunlichen Fotografien
Von
20.12.2023
/
Erschienen in
Weltkunst Nr. 221
In den Weihnachtsferien reisten die beiden zu Vorträgen durchs ganze Land, in Bibliotheken, Colleges und Museen. Damit verdienten sie das Geld, um an ihr eigentliches Ziel zu kommen: New York. Die Galerien und Museen dort fand Corita spannender als das, was sie aus Kalifornien kannte. Wobei – in L. A. sah sie 1962 jene Show, die für sie den Wendepunkt bedeutete: Andy Warhols Suppendosen. Es war, als hätte ihr jemand die Augen geöffnet. Fortan wurde die kalifornische Großstadt mit ihren grellen Werbebotschaften und der visuellen Pracht der Supermärkte zu Coritas unerschöpflichem Fundus. Die Kämpferin für soziale Gerechtigkeit wollte den Kommerz mit seinen eigenen Waffen schlagen, seine Mittel nutzen zu einem heiligen Zweck: „Um dem krassen Materialismus mit religiösen Werten entgegenzutreten oder zumindest mit wirklichen Werten.“ Das Timing war perfekt. In den Sixties veränderte sich nicht nur die Gesellschaft massiv (gerade an der amerikanischen Westküste), sondern auch die Kirche. Im Jahr der Warhol-Show, 1962, begann das Zweite Vatikanische Konzil, das eine Modernisierung der katholischen Kirche bedeutete, eine Öffnung zur Gesellschaft, auch ein neuer Respekt für die Rolle der Frauen. Das ließen sich die Nonnen nicht zweimal sagen. Auf der Weltausstellung in New York 1964 durften sie den Pavillon des Vatikans gestalten.
Das College Art Department übernahm jetzt die jährliche Maria-Prozession des Klosters, aus der Corita ein frühsommerliches Happening machte. Nonnen, Studentinnen und andere bunt gekleidete Gäste steckten sich Blumen an den Hut, ließen Kreppband vom Regenschirm regnen, hingen selbst gestaltete Banner an der Klosterwand auf. Wie bei einer Demonstration hielten sie Schilder an Stäben hoch und bemalte Kartons über den Kopf. „Don’t get involved“ stand da zum Beispiel auf dem einen, „No No“ auf dem anderen.
Der Fotoband enthält viele Bilder von der Prozession und den Vorbereitungen, in denen man die Nonnen mit jungen Kalifornierinnen, Frisuren und Kleider ganz im Stil der 1960er, auf dem Boden hocken sieht, sie nähen, kleben, schneiden, basteln und blasen bunte Luftballons mit der Aufschrift „Round Wonder“ auf. Dazu wurde getanzt und Musik gemacht, von Geistlichen und Weltlichen zusammen. Eine fröhlichere Feier hat Gott wohl selten gesehen. Das Leben – ein Fest: Für Sister Corita stand das im Zentrum ihres Glaubens wie ihres Schaffens.
Das hat nicht allen gefallen. Ihren größten Widersacher hatten die freigeistigen Nonnen im erzkonservativen Erzbischof von Los Angeles. Auf Sister Corita hatte es Kardinal James McIntyre besonders abgesehen. Entsetzt reagierte der alte Mann auf ihre Arbeit, mit der sie die Mutter Maria als „saftigste Tomate von allen“ beschrieb, ein Werbeslogan für Del-Monte-Tomatensoße. Was der Erzbischof als Blasphemie ächtete, sah die Nonne als neue Form des Betens an, als Verankerung der Religion im Leben. In jüngeren Jahren, als sie noch gegenständlich arbeitete, hatte sie biblische Figuren gemalt. Am Ende ihres Lebens gestaltete sie Plakatwände mit der Aufschrift „Wir können Leben ohne Krieg schaffen“ gegen die nukleare Aufrüstung. Dieses „Billboard Peace Project“, das sie 1985 für die Physicians for Social Responsibility schuf, bezeichnete sie als ihr religiösestes Werk.
So wie ihrer Meinung nach alles Kunst sein konnte, konnte auch alles religiös sein. „Ich stellte fest, das alles, was etwas taugte, eine religiöse Qualität hatte.“ Im neuen Fotoband steht dieses Corita-Zitat unter der Aufnahme einer kleinen Baustelle. Ein Schutthügel, umstellt von Kegeln, in denen rote Fähnchen flattern. Als hätte ein Installationskünstler die Szene arrangiert. Ihre zunehmende Politisierung in den Sechzigerjahren – für die Bürgerrechtsbewegung und gegen den Vietnamkrieg – waren dem Kardinal mindestens so zuwider wie ihre poppigen Happenings. Während er auf Hierarchien und männlicher Autorität beharrte, setzte sie auf Gemeinschaft, Teamgeist und Gleichberechtigung. „Die Befreiung der Frau“, erklärte sie, „ist die Befreiung des Femininen im Mann und des Maskulinen in der Frau.“ 1967 landete Corita, inzwischen im ganzen Land bekannt, auf dem Cover vom Newsweek Magazine. Im Jahr darauf war sie so erschöpft, ausgelaugt von der vielen Arbeit, den Vortragsreisen, der eigenen Prominenz und nicht zuletzt den Kämpfen mit ihrem Widersacher, dass sie eine Auszeit nahm. Für den Sommer 1968 fuhr sie nach Cape Cod – und kehrte nicht zurück. Aus Sister Corita wurde Corita Kent, die sich in Boston niederließ.
Mit 50 Jahren musste sie sich zum ersten Mal selbst um ihren Alltag kümmern, Rechnungen bezahlen, eine Wohnung suchen. Und plötzlich stellte sie fest, wie wenig Galerien für ihre Kunst zahlten, viel zu wenig zum Leben. So nahm sie nun auch Aufträge von Firmen an, schuf ihre Bestseller. In der Nähe von Boston fahren heute noch jeden Tag Zehntausende von Pendlern an ihrem 43 Meter hohen Gasspeicher an der Autobahn vorbei, der nach ihren Vorgaben mit Regenbogenfarben bemalt wurde; es soll das größte Werk der Welt mit Copyright sein. Ihre kleinste Arbeit, eine Briefmarke, ebenfalls mit Regenbogenfarben und dem Wort „love“, wurde 700 Millionen Mal verkauft. Der Premierenfeier auf dem Loveboat der gleichnamigen Fernsehserie blieb die Künstlerin im Jahr 1985 allerdings aus Empörung fern. Das sei nicht die Art von Liebe, die sie meinte. Corita blieb Corita. Stattdessen schuf sie eine neue Arbeit mit dem Titel „Love is hard work“.
Der Regenbogen war für Corita ein freudiges Zeichen der Hoffnung, eine Verbindung zwischen Himmel und Erde. „Eine fröhliche Revolutionärin“ hatte der Künstler Ben Shahn sie genannt. Auf Fotos und in Filmaufnahmen sieht man die zarte Frau meist verschmitzt lächeln. In ihrem zweiten Leben kam ihre dunkle Seite zum Vorschein, die, wie Corita in einem Fernsehinterview bekannte, inzwischen meist stärker war als die helle. Vorher gab es für die Depressionen gar keinen Raum, als Sister Corita hatte sie rund um die Uhr gearbeitet. Selbst nachts, wenn sie mal wieder wach lag (sie litt ihr Leben lang unter Schlafschwierigkeiten). Dann las sie stundenlang: Martin Luther King und Beatles-Songs, die Bibel und Gertrude Stein, deren Worte sie später in ihre Bilder einbaute. Wobei sie wegen ihrer zahlreichen Aufgaben nur in den Sommerferien, im August, zur eigenen Arbeit in der Siebdruckwerkstatt kam, wo sie dann unter Hochdruck und mit der tatkräftigen Hilfe von Freunden wirkte. Als leidenschaftliche Lehrerin und Klostermitglied war sie stets in die Gemeinschaft eingebettet gewesen. Jetzt lebte sie allein, hatte zwar Freundschaften, doch der Traum von einer Beziehung erfüllte sich nicht. Ihre Kunst wurde leiser, introvertierter; sie malte nun vor allem mit Wasserfarben, am liebsten die Natur. Die überschäumende Wucht ihrer früheren Arbeiten hatten die Bilder nicht. Spiritualität suchte sie jetzt eher woanders als in der Kirche, etwa in der Jung’schen Psychologie.
Dann erkrankte sie an Krebs, erst einmal, dann ein zweites Mal. 1986 starb die Künstlerin mit 68 Jahren. Eine Beerdigung wollte sie nicht, aber wenn die Freunde sich zu einer Party treffen – das fand sie okay. Ihre Asche wurde im Vorgarten ihrer Schwester verstreut, die in einer Galerie in Los Angeles Coritas Arbeiten vertrieben hatte. In ihre alte Heimat war Corita nur noch zu jährlichen Besuchen zurückgekehrt, um Familie, Freundinnen und Freunde oder frühere Mitschwestern zu treffen und private Benefizausstellungen für sie zu machen. Da der Erzbischof auch nach Coritas Weggang die Nonnen massiv unter Druck setzte – entweder sie gehorchten seinem Diktat oder müssten ihr Gelübde ablegen –, verließ die überwältigende Mehrheit den Orden und bildete eine eigene Gemeinschaft, die Immaculate Heart Community. Das College wurde 1981 geschlossen. Jahrzehnte später entschuldigte die katholische Kirche sich für den Quasi-Rausschmiss der engagierten Nonnen.
Corita vermachte ihre Arbeiten und das Copyright der Community, die 1997 dann das Corita Art Center einrichtete. Dessen professionelles Team kümmert sich um den Nachlass, aber auch darum, den Geist der Künstlernonne wachzuhalten: mit einer umfangreichen Website, Veranstaltungen für die Nachbarschaft, auch indem sie an ihre eigenwilligen Unterrichtsmethoden und zehn Gebote des Lehrens und Lernens erinnern. Regel Nummer vier: Betrachte alles als Experiment. Regel Nummer sechs: Es gibt keine Fehler. Regel Nummer sieben: Arbeite! Den Verkauf von Werken hat das Zentrum Galerien übergeben. Olivia Cha, Kuratorin des Centers, hat auch das Nachwort zum Fotoband verfasst. Dessen Mitherausgeberin Julie Ault hat in den USA wesentlich zur Corita-Renaissance der letzten Jahre beigetragen. Als sie, angestoßen durch ein geschenktes Plakat, angefangen habe, das Werk zu erforschen, habe es sie umgehauen. Sie besuchte das Center, sammelte die Kunst, als sich kaum jemand dafür interessierte, veröffentlichte ein Buch und kuratierte mehrere wichtige Ausstellungen.
Eine kleinere fand im Jahr 2006 in London statt, in Wolfgang Tillmans’ Galerie Between Bridges. Es ist kein Zufall, dass der deutsche Fotokünstler einer der Ersten in Europa war, der Corita wiederentdeckte. In der Farbigkeit, dem Fragmentarischen des Ausschnitts, der Poesie des Alltäglichen und Menschlichen wirken sie sich sehr nah. Auch Tillmans ist jemand, für den Kunst und politisches Engagement sich nicht ausschließen, für den der – moderne – Glaube von Bedeutung ist. In der Galerie Between Bridges in Berlin, wo Tillmans heute lebt, fand jetzt die deutsche Premiere des Fotobuchs statt. Vielleicht der Anfang einer Renaissance der Künstlerin und Aktivistin hierzulande. Ihre Botschaft wirkt heute ebenso relevant wie ihr Werk: Die Welt ist es wert, gerettet zu werden, und dazu bedarf es jedes Menschen. „Wir können uns nicht zurücklehnen und erwarten, dass Gott das alles für uns macht.“