Die kalifornische Künstlerin Corita Kent war eine katholische Nonne und Aktivistin, in Amerika genießt ihre Pop-Art heute Kultstatus. Ein neues Buch feiert erstmals ihre erstaunlichen Fotografien
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20.12.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 221
Plork! Plork? Den Ausdruck hatte sie sich selbst ausgedacht, und er war so lustvoll gemeint, wie er klingt: Plöak! Besser lässt sich der Kern ihrer Philosophie gar nicht zusammenfassen. Play and work waren für die Nonne eins und bildeten die Basis ihres Schaffens wie ihres Glaubens.
Als Künstlerin immer im Dienst, spielte Sister Corita mit Farben und Formen, Buchstaben und Bedeutungen, Materialien und Worten. Zeichen des amerikanischen Alltags nahm sie ebenso auseinander wie Popsongs, Bibelstellen oder Poesie, um die Fragmente dann zu eigenen Bildern und Botschaften neu zusammenzufügen, philosophischen, religiösen, hintergründigen: – „First half already up“ – „Full“ – „Hang on, little tomato“.
Aus einem watteweichen Industrie-Scheibenweißbrot, Wonder Bread, machte sie eine frohe Botschaft des Glaubens. Die Vorlage war zu gut, um sie nicht immer wieder aufzugreifen. Also nutzte die Ordensfrau die lustigen bunten Punkte auf der Verpackung der bekannten Marke ebenso wie das wunderbare Wort Wunder und den Werbeslogan der Firma – „The big G stands for Goodness“ („Das große G steht für Güte“) – als Kunst-Stoff. Wer wollte, konnte darin das Abendmahl entdecken, den Körper Jesu, die Güte Gottes, den Kampf gegen Armut und Hunger. Wer nicht wollte oder konnte, sah in ihren Lithografien und Plakaten einfach ein herrliches Stück Pop-Art. Auch gut. Kunst war nach Meinung der Ordensfrau für alle da. Also konnten auch alle darin sehen, was sie wollten.
Sister Corita – Corita Kent, wie sie sich nach ihrem Austritt aus dem Orden nannte – war eine der prägenden amerikanischen Künstlerinnen und Kunstlehrerinnen der Sixties. Eine der ganz wenigen Frauen und die Einzige im schwarzen Gewand. Fast 40 Jahre nach ihrem Tod haben ihre Werke eine Frische, Relevanz und Lebendigkeit, der, so die Künstlerin und Kuratorin Julie Ault, etwas extrem Heutiges anhaftet. „Die Energie springt einen regelrecht an.“ Das gilt auch für die Fotos, die, so farbenfreudig, originell und hintergründig wie ihre grafischen Arbeiten, jetzt zum ersten Mal in größerem Umfang der Öffentlichkeit vorgestellt werden. 300 Bilder zeigt das kürzlich erschienene Buch „Ordinary Things Will Be Signs for Us“. Julie Ault, Jason Fulford und Jordan Weitzman, alle drei selbst Kunstschaffende, haben eine hinreißende Auswahl zu einer Art Collage im Querformat zusammengestellt. Ein winziger, aber aussagekräftiger Ausschnitt aus den insgesamt mehr als 15 000 Dias, die die Künstlerin zwischen 1955 und 1968 aufnahm und die vom Corita Art Center in Los Angeles in den letzten Jahren digitalisiert wurden.
Das Buch zeigt viele Bilder, wenig Text. Gleich das erste Foto, ein knallroter Wagen in einer großen Halle, durch dessen Fenster man, schwarz auf orange, das Wort „Shock“ sieht, ist eines William Egglestons würdig. Die Beine, die unter der Bushaltestelle hervorlugen, ebenso. Die Nonne hatte ein Auge für Farben, Komposition, Ausschnitte. Ob das Kunst war? Die Frage war für Corita irrelevant. „Wir haben keine Kunst. Wir machen alles so gut wie möglich.“ Diesen balinesischen Spruch zitierte die Dozentin gern. Jeder Mensch war für sie ein Künstler. Worauf es für sie ankam: allein auf die Kreativität und das Schaffen. „Jedes Mal, wenn wir Dinge zusammenfügen, sind wir schöpferisch tätig – egal, ob es darum geht, einen Laib Brot, ein Kind oder einen Tag zu machen.“ Kunst hatte für sie keine Grenzen. „Alles ist möglich.“ In einer gemeinsamen Aktion am Strand Drachen fliegen zu lassen gehörte für sie auch dazu. Die Kamera baumelte der Nonne stets vor der schwarz bedeckten Brust. So war sie gerüstet, um das Leben im Kloster festzuhalten, Augenblicke einzusammeln. Künstlerische Anregungen fand sie überall, im Kino und im Museum, in Büchern, Supermärkten und Autowaschanlagen. An solche Orte führte sie ihre Studentinnen auf Exkursion. Dort sollten sie sehen lernen, etwa indem sie ein Loch in eine Pappe schnitten und durch das Rechteck guckten. Oder indem sie eine Stunde lang auf eine Cola-Flasche starrten. Eine Übung in Abstraktion: reine Form, vom Inhalt befreit.
Ausgestellt hat Corita die Fotos im Unterschied zu ihren grafischen Arbeiten nicht. Sie waren als Anschauungsmaterial für Vorträge und Seminare gedacht – die ganze Fülle des Lebens als Inspirationsquelle für sich und ihre Schülerinnen. Ihr Unterrichtsstil, geboren aus der Angst vor der Langeweile, unter der sie selbst an der Schule so gelitten hatte, ihre Anleitung zur Kreativität waren so unorthodox wie ihre Kunst und füllen ein ganzes Buch. Nach der Vorführung eines Films etwa stellte sie als Hausaufgabe: „Überlegt euch bis morgen 200 Fragen dazu“ oder „Macht 200 Zeichnungen von eurer Hand“ oder „Notiert 500 Dinge, die man mit einem Backstein machen kann“. Herausforderung durch Überforderung hieß ihre Devise. Plork! Die Idee dahinter: Irgendwann würden die Studierenden aufhören zu denken, einfach machen und anfangen zu spielen. Es waren Lockerungsübungen im Dienst der künstlerischen Freiheit.
„Frances Kent: der Kunst ergeben“ stand schon unter ihrem Foto im Highschool-Jahrbuch. 1918 geboren in Iowa, aufgewachsen in Hollywood, L. A., in einer großen gläubigen Familie, besuchte sie mit ihrem Bruder und einer Schwester katholische Schulen. Die Sisters of the Immaculate Heart of Mary waren Lehrerinnen, an eigenen wie externen Schulen. Corita unterrichtete erst Grundschüler, bevor sie am klostereigenen College, an dem sie selbst ihren Bachelor gemacht hatte, als Dozentin begann und nebenbei ihren Master an der University of Southern California machte. Die Witwe eines mexikanischen Wandmalers brachte ihr die Technik des Siebdrucks bei, der zu ihrem bevorzugten Medium wurde. Da Kunst ja für alle da war, sollte sie auch für alle erschwinglich sein, so wie Grafik und Plakate es waren. Von Mark Rothkos Gemälden lernte sie nach eigener Auskunft die losen Formen und das Einfache. Mit der Kunstwelt war Corita bestens vernetzt. Jeden Freitag lud sie die Besten ihrer Zunft zu Gastvorträgen ein: Regisseure wie Alfred Hitchcock, Architekten und Tüftler wie Buckminster Fuller, Typografen und Grafikdesigner wie Saul Bass, Komponisten wie John Cage. Wenn Sister Corita rief, kamen sie alle. Das klösterliche College galt inzwischen als eine der experimentierfreudigsten Kunsthochschulen mindestens Kaliforniens.
Zu den Stammgästen der Vortragsreihe gehörte das Designerpaar Charles und Ray Eames, das zu Freunden wurde und auf verschiedenen Bildern im neuen Fotoband zu sehen ist. Kein Wunder, teilten die Seelenverwandten doch das Prinzip des Plork, der Kombination von harter Arbeit mit spielerischem Geist, der explosiven Lust an Experimenten, Farben, Formen und überhaupt: am Leben. Coritas wichtigste Mentorin am College war Sister Magdalena Mary, die Leiterin des Art Departments, deren Assistentin und später Nachfolgerin die Jüngere wurde. Magdalenas Passion war die Folk-Art, wobei sie nicht nur traditionelle Volkskunst fürs College sammelte, sondern auch einfache, gut gemachte Alltagsgegenstände. Aus Ägypten etwa brachte „Sister Mag“, wie alle sie nannten, einen Kamelsattel mit. Auf einer dreimonatigen Reise durch Europa und den Mittleren Osten 1959 waren Corita und Mag selbst auf Kamelen geritten.