Schloss Derneburg

Alte Mauern, junge Kunst

Erst wollten sie von Georg Baselitz nur ein paar Bilder kaufen, dann verliebten sich Christine und Andrew Hall in sein marodes Schloss in Derneburg. Und verwandelten es in ein Kunstmuseum der Superlative

Von Christiane Meixner
08.11.2022

Mit Bleistift hat jemand ein Pferd auf die Wand gezeichnet. Ganz skizzenhaft, ein kugelrunder Bauch auf vier unförmigen, halbmeterhohen Beinen und ein Kopf, der mit gesenktem Hals genau auf jener Linie grast, wo die alten Kacheln enden und der helle Putz beginnt. Es steht da, augenscheinlich seit Jahrzehnten, denn überall in der geräumigen, blitzblanken Küche von Schloss Derneburg hängen Fotografien, die ebenfalls schon älter sind und denselben Ort in einem anderen Zustand zeigen: wie kurz vor dem Abriss, das Mauerwerk sichtbar, der schöne Steinfußboden von Spänen übersät, die Wände bekritzelt mit Beinen und plastischen Köpfen – und dazwischen dieses zarte, kindlich einfach umrissene Pferd.

Das Tier stammt von Georg Baselitz, der hier einmal sein Atelier hatte. Es war ein Raum für Skulpturen, gemalt wurde anderswo im Schloss. In der Küche aus dem 19. Jahrhundert standen rohe Holzklötze, die an Metallketten durch den Raum gehievt und mit Axt und Kettensäge in Form gebracht wurden. Vor dem Gebäude, auf dem mit Kies bedeckten Vorplatz, überragt eine Doppelfigur die immergrünen Hecken rund um das Anwesen. „Sing Sang Zero“ (2011) aus schwarz patinierter Bronze hebt sich scharf gegen den Himmel ab. Verewigt sind der Künstler und seine Frau Elke, obgleich das Ehepaar Schloss Derneburg bereits vor 14 Jahren verließ.

Doch immer noch ist Baselitz sehr gegenwärtig: in der Küche dank der vielen Schwarz-Weiß-Fotos ebenso wie im getäfelten Rittersaal, den er, wie später den zweigeschossigen Neubau im weitläufigen Park, zum Malen nutzte. Eine Präsenz, die auch damit zu tun hat, dass die jetzigen Eigentümer des Schlosses, Christine und Andrew Hall, an die 120 Werke aus der Sammlung von Baselitz besitzen. Mit ihrem Erwerb beginnt das spektakuläre Engagement zweier Kunstliebhaber aus Übersee im Harzvorland.

Schloss Derneburg
Das Sammlerpaar Christine und Andrew Hall. © Hall Art Foundation at MASS MoCA, North Adams, MA/Anselm Kiefer/Courtesy Hall Art Foundation

Bevor sich die Halls – Andrew machte im Ölhandel und an der Wall Street sein Vermögen – das ehemalige Kloster zulegten, waren sie ausschließlich an der Kunst im Haus interessiert. Das Paar sammelt zeitgenössisch und am liebsten viel von einem Künstler, damit sich dessen Werk in Ausstellungen exemplarisch entfalten kann. In Derneburg stand 2006 zum Verkauf, was Baselitz über Jahrzehnte mit Kollegen wie Markus Lüpertz, Anselm Kiefer oder A. R. Penck getauscht oder von ihnen erworben hatte. Auch das marode Gebäude, das der Künstler seit den Siebzigerjahren bewohnte, wollte er abstoßen; damals war von 2,6 Millionen Euro für fast 80 Zimmer und einem Grundstück von 6,5 Hektar die Rede. Doch die Halls, begeistert von deutscher Kunst nach 1945, erwarben vorerst nur die Sammlung. Geplant war, sie in den USA, wo das Paar abwechselnd in New York und Vermont lebte, in einem eigenen künftigen Privatmuseum unterzubringen. Doch wohin mit so vielen Bildern, wenn es das Haus noch gar nicht gibt?

„Nehmt das Schloss dazu, dann habt ihr Platz!“, soll Baselitz gesagt haben. Eine Idee, die Andrew Hall erst „ein bisschen verrückt“ fand. Dann aber dachte er: „Warum nicht? Damals wollten wir extra für die Sammlung bauen. Dabei ist Derneburg doch eigentlich ein passender Ort für die vielen Kunstwerke von Baselitz in unserer Sammlung.“

Ein bisschen verdankt es die Gemeinde Holle im Landkreis Hildesheim mit ihren Fischteichen und der bestürzend schönen Natur also dem Künstler, dass sie nun mit einem spektakulären Museum glänzen kann.

Schloss Derneburg
Das gewaltige „Sleeping Field“ von Antony Gormley. © Heinrich Hecht/Hall Art Foundation

Schon zu Baselitz’ Zeiten war es ein Labyrinth aus Gängen, Wohn- und Gästezimmern. Die Halls ließen dann zusätzlich den ruinösen Teil des Schlosses wiederaufbauen; der Berliner Architekt Tammo Prinz ergänzte den fehlenden Flügel sachlich im Stil eines White Cube. So kommt es, dass rustikale, historische Räume mit schneeweißen Sälen wechseln, dass sich nach der Kapelle mit ihren tiefroten Fenstern, in der US-Superstar Julian Schnabel Bilder aus Watte an die Wand gebracht hat, Antony Gormleys Miniaturfiguren in einer von Neonlicht gefluteten Halle scheinbar ins Nichts ergießen: kleine geometrische Gestalten, die sitzen, liegen, meditieren und von Weitem an die Architektur einer visionären Stadt erinnern.

Im Keller ducken sich unter dem tiefen Kreuzgewölbe die farbigen Neonskulpturen von Keith Sonnier. Und im herrschaftlichen Eingang mit seiner Steintreppe und der Galerie über den Köpfen der Besucher ist der Vorvorbesitzer von Derneburg im Entree als Büste von Ernst Friedrich Herbert zu Münster mit mächtigem Backenbart präsent. 

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