Schloss Derneburg

Alte Mauern, junge Kunst

Erst wollten sie von Georg Baselitz nur ein paar Bilder kaufen, dann verliebten sich Christine und Andrew Hall in sein marodes Schloss in Derneburg. Und verwandelten es in ein Kunstmuseum der Superlative

Von Christiane Meixner
08.11.2022

Über diese Szene legt sich ein zauberhaft blau-violettes Licht. Man assoziiert es mit alten Bleiglasfenstern, von denen eines über dem Eingangsportal eingelassen ist. Es wirkt, als sei es immer dort gewesen, schon seit Klostertagen. Tatsächlich stammt das Fenster von Spencer Finch. Es trägt den Titel „Passing Cloud (Over Derneburg)“ und resultiert aus einem Besuch, den Finch großenteils im Park verbrachte, um die Lichtverhältnisse in Derneburg zu messen. Anschließend konservierte der amerikanische Künstler die Stimmung jenes verhangenen Tages in farbigem Glas.

Es lohnt sich, auf solche Details zu achten. Die Kunstbücher, die sich auf einem langen Tisch stapeln, erzählen ebenso von den Vorlieben der Halls wie ein kleines Bildgeschenk Nicole Eisenmans auf dem Kaminsims. Dazu stehen in fast jedem Raum Sessel, die mehr als nur Sitzgelegenheit sind; die skulpturalen stammen von John Armleder, die einfachen bunten von Franz West.

Schloss Derneburg
Bilder von Gilbert & George sind weitere Stationen auf dem Rundgang. © The Hall Art Foundation, Foto: Roman März

Die große Tour führt durch alle zugänglichen Zimmer. Hinaus in den Garten bis zu jenem geräumigen Langhaus, das Baselitz sich zusätzlich als Atelier bauen ließ. Für Andrew Hall war es von Anfang an einer der „wunderschönen Räume“, in denen man problemlos Kunst ausstellen kann. „Andere mussten wir verändern“, erzählt er. Das sei doch eine „sehr interessante Kombination“, schwärmt er. So kommt nun alles unter. Die monumentalen Bilder und Skulpturen von Julian Schnabel beanspruchen ähnlich viel Platz wie die großen Bilder von Baselitz, die hier früher entstanden. Im Schloss arrangiert sich die von Andrew Hall selbst kuratierte Ausstellung „The Passion“ um den historischen Kreuzgang: eine Schau über christliche Ikonografie in der aktuellen Kunst, Hall ist bei verblüffend vielen Künstlern in seiner Sammlung fündig geworden. Gerhard Richter ist ebenso vertreten wie Hermann Nitsch, Dan Flavin, Damien Hirst, Gilbert & George oder Martin Kippenberger, dessen gekreuzigter Frosch eine Teilnehmerin der Tour in Rage bringt. Seltsam, denn Kippenberger ist nicht der einzige Künstler, der das Thema auf Derneburg provokant verhandelt.

Mit dem Kreuzgang verbinden sich noch mehr Geschichten. Neben dem Gemäuer, das weit maroder als gedacht war und aufwendig saniert werden musste, sorgte vor allem das klösterliche Erbe dafür, dass sich die geplante Eröffnung des Schlosses von 2007 um ein Jahrzehnt verschob. Als die Restaurierung startete, stieß man unter dem Kreuzgang auf Gebeine von Nonnen und Mönchen. Danach begannen archäologische Grabungen, die klarmachten, dass frühere Epochen nicht eben zimperlich mit den Gräbern umgegangen waren: Zahlreiche Knochen waren einfach dort abgeschnitten, wo man im 19. Jahrhundert neue Fundamente für den Umbau gegossen hatte.

Wer sich mit Derneburg befasst, seinem eigentümlichen Grundriss und den auffälligen sakralen Details, der landet zwangsläufig in der Geschichte. Ställe und andere Wirtschaftsgebäude rund um das mehrfach veränderte Schloss erinnern an den Reichtum des Klosters, das nach Plünderungen und Reformation im 17. Jahrhundert von Zisterziensern bewirtschaftet wurde. 1803 erfolgte die Säkularisierung, wenige Jahre später nahmen französische Truppen das Gebäude auseinander. Erst Georg Herbert Graf zu Münster kümmerte sich 1846 wieder um Derneburg, baute das Kloster zum Schloss im englisch-gotischen Tudorstil um und beauftragte den Architekten Georg Ludwig Friedrich Laves mit einem Landschaftsgarten nach englischem Vorbild. Der Graf war schließlich in London aufgewachsen.

Schloss Derneburg
Anthony Gormleys Installation „Seat" (2018) wacht über der Tür © Hall Art Foundation, Foto: Roman März

Kein Wunder, wenn Andrew Hall Derneburg trotz anfänglicher Bedenken eine „Liebe auf den ersten Blick“ nennt. Wie seine Frau stammt der 68-Jährige aus Großbritannien, in die USA gingen beide Anfang der Achtzigerjahre. Zu Beginn mussten sich die Halls erst einmal mit der Idee anfreunden, ein Schloss in einem stillen Winkel von Niedersachsen zu besitzen. 2017, als die ersten Ausstellungen eröffneten, stieg Andrew aus dem Rohstoffhandel aus, seitdem widmet sich das Paar ausschließlich der Kunst. Nahezu alle Exponate auf dem Grundstück stammen aus der Hall Art Foundation, die aktuell fast 6000 Werke umfasst. Manches leihen Künstler dazu, wenn ihnen wie Gormley Ausstellungen gewidmet werden. Seine Schau ist inzwischen abgebaut, andere Präsentationen wurden neu eröffnet, manche sind seit 2017 zu sehen.

Vor Jahren, als die inzwischen verstorbene Barbara Weiss und Andrew Hall während eines Dinners in Berlin nebeneinandersaßen, fragte die Galeristin den Sammler, wie viele Arbeiten er eigentlich von Künstlerinnen besäße. Hall kam nach wenigen Namen ins Stocken und nahm sich danach die Lektion in Sachen Gendergerechtigkeit zu Herzen.

Heute sind viele herausragende Künstlerinnen in der Stiftung vertreten, von Barbara Kruger über Maria Lassnig oder Tracey Emin bis Nicole Eisenman. Und die Sammlung wächst weiter, ähnlich wie die Ausstellungsfläche, die längst vom Schloss auf Nebengebäude übergegriffen hat. In einer Scheune laufen Filme von Robert Longo, andere Häuser der Domäne werden sukzessive umgebaut. Die ehemaligen, an britische Cottages erinnernden Fischerhäuschen sollen in naher Zukunft Bed and Breakfast bieten, weil viele Besucher gern übernachten würden, um nach der Kunst noch die Natur zu erkunden. Bei den Schlossbesitzern treffen sie auf vollstes Verständnis, sie sind ja selbst in Derneburg vernarrt. „Ziemlich möglich“ findet Andrew Hall die Idee, irgendwann ganz hierherzuziehen. Festlegen will er sich zwar nicht, aber auch nichts ausschließen: „Wir werden sehen!“

Schloss Derneburg
Lydia Okumuras „Labyrinth“ von 1984 ist im Kunstmuseum Schloss Derneburg zu sehen. © courtesy Hall Art Foundation/the artist

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