Happening in Venedig

Was passierte am 14. Juli 1960?

Eine Tinguely-Skulptur verschwindet im Kanal, Passanten bekreuzigen sich, eine bizarre Totenfeier wird abgehalten. In Basel zeigt jetzt eine Ausstellung, wie Jean-Jacques Lebel Europas erstes Happening inszenierte

Von Lisa Zeitz
13.04.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 129

Was für ein Anblick bot sich den Venezianern am 14. Juli 1960! Eine Leichenprozession zog auf Gondeln durch die Kanäle. Die Stimmung der eleganten Gruppe italienischer Adliger, amerikanischer Musiker und internationaler Poeten und Künstler war düster. Tränen flossen. Doch unter dem golddurchwirkten Tuch war kein menschlicher Körper aufgebahrt, sondern eine Skulptur von Jean Tinguely. Das wussten die Menschen nicht, die sich am Ufer bekreuzigten. Die Fahrt führte nicht zur Toteninsel San Michele, sondern scheinbar ziellos durch kleine und große Wasserwege, schließlich durch den Canal Grande. Dann wurde das Tuch gelüftet, und Tinguelys Skulptur, die heute viel Geld wert wäre, versank – Platsch! – im breiten Giudecca-Kanal und wurde nie wieder gesehen. Die Frauen warfen weiße Blumen, die noch eine Weile auf der Wasseroberfläche trieben.

Fast ein halbes Jahrhundert später, 2003, auf der West 57th Street in New York, nicht weit von der Carnegie Hall, zu Besuch bei einer alten Dame: Wir sichten ihre Fotografien aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren, Momente aus dem Leben einer Frau an der Seite eines erfolgreichen Künstlers. Virginia Dortch Dorazio, eine zierliche Person mit strahlend blauen Augen, kam als junge Frau aus Little Rock, Arkansas, 1952 zum ersten Mal nach Europa, um all die Werke im Original zu sehen, die sie nur als Schwarzweißbilder aus den Vorlesungen ihres Kunstgeschichtsstudiums kannte. Die schüchterne, aber mutige junge Frau reiste von Schweden bis nach Italien und begegnete in Rom dem Künstler, der zum Mann ihres Lebens wurde, dem Maler Piero Dorazio. Die beiden heirateten in New York, wo sie sich in den Kreisen von Pollock, Rothko und de Kooning bewegten, und lebten zeitweise in Amerika, zeitweise in Rom. Virginia gab ihre Malerei auf. Da Piero Dorazio ihre Leinwände wiederverwendete, findet man manchmal noch eines ihrer Werke auf einer Rückseite. Virginia wandte sich der Fotografie zu und hielt immer wieder die Kunstwelt, zu der sie gehörte, mit der Kamera fest. Ihre Porträts, ob Tinguely mit seiner selbstzerstörerischen Maschine im Museum of Modern Art oder Franz Kline in seinem Atelier in New York, wurden oft veröffentlicht, auch wenn der Name der Fotografin nicht immer genannt wurde. Vor einigen Jahren waren ihre Aufnahmen in der Ausstellung „Philip Guston and the Poets“ in der Accademia in Venedig zu sehen.

Als wir im Jahr 2003 ihre Werke durchgehen, entdecken wir in einer Schachtel zwischen Künstlerporträts einen Kontaktbogen aus Venedig: eine Gondel, ein Handgemenge, ein Blick auf die Wasseroberfläche, Schnappschüsse, die sie nie in größerem Format entwickelt hatte. Was das gewesen sei? Sie blickt die nur briefmarkengroßen Bilder lange an, bis sie sich erinnert. „Das war 1960, als Piero zur Biennale eingeladen worden war.“ Ein paar Erinnerungen an diesen Tag werden wieder wach, etwa dass es in einer Kapelle einen skurrilen Gottesdienst für Tinguelys Skulptur gegeben habe, bevor sie im Kanal verschwand, und dass Peggy Guggenheim dabei war, mit der sie in jenem Sommer eine Freundschaft begann, die darin mündete, dass Virginia ein Buch über die außergewöhnliche Sammlerin schrieb. Wieder vergehen Jahre. 2010 stirbt Virginia Dortch Dorazio im Alter von 85 Jahren. Nun hat ihr Sohn eingewilligt, die historischen Venedigfotos in der Weltkunst erstmals zu veröffentlichen.

Organisiert hatte das Happening der damals erst 24-jährige Künstler Jean-Jacques Lebel. Er lebt in Paris  und gibt am Telefon gern Auskunft über jenen Tag im Juli 1960. An die zurückhaltende Virginia Dortch Dorazio erinnert er sich kaum, aber natürlich an Piero Dorazio: „Wir haben viel diskutiert. Das muss man sich mal vorstellen, ein abstrakter Maler, der Kommunist war! Das war nur in Italien möglich, in jedem anderen Land wäre ein abstrakter Maler aus der Partei geflogen.“ Die Fotos, von deren Existenz er nichts wusste, sind für ihn eine Sensation, denn die Beisetzung von Tinguelys Skulptur war das erste Happening überhaupt in Europa. Den Begriff Happening hatte der Künstler Allan Kaprow in den USA kurz zuvor für avantgardistische Performances eingeführt, um damit einmalige, theaterähnliche Events zu beschreiben, die das Publikum miteinbeziehen und sich manchmal als andere Rituale tarnen. Ausgeführt hat er diese Idee in seinem grundlegenden Buch „Assemblage, Environments & Happenings“ – und das Ereignis in Venedig im Juli 1960 nennt er als erstes europäisches Happening. Was ist also an diesem Tag geschehen? Lebel muss etwas ausholen.

Er selbst, der Dichter Alain Jouffroy und ihr Freund Sergio Rusconi hatten im Juni 1960 parallel zur Biennale in der Galleria Il Canale, direkt an der Accademia, eine Gruppenausstellung mit dem Titel „Anti-procès II“ veranstaltet. Mit „Anti“ war ihre Einstellung gegen den Algerienkrieg, gegen die Folter, gegen Rassismus gemeint. Sie waren gegen alles Nationale, auch gegen die Länderpavillons, die das Konzept der Biennale bestimmen, und ganz allgemein gegen Dogmen, auch gegen den Kunstmarkt und gegen Kommerz. „Was wollten wir? Protest, Freiheit und Spaß“, sagt Lebel. „Wir hatten nicht einmal Geld für den Transport.“ Deshalb nahmen sie die Leinwände, etwa von dem belgischen Surrealisten Henri Michaux und dem Kubaner Wifredo Lam, von den Keilrahmen und rollten sie ein, um sie von Paris nach Venedig zu schaffen. Lebel kannte auch den Schweizer Tinguely, der in Paris im ehemaligen Atelier von Brancusi arbeitete: „Seine Skulptur schnallten wir auf das Dach von Jouffroys kleinem Renault Dauphine. So sind wir in zwei Tagen von Paris nach Venedig getuckert.“ In der Galerie Il Canale stellten sie Malerei im Innenraum aus, Skulpturen auf der Terrasse – auch die von Tinguely, die Zeitgenossen als eine „Mischung aus einem Pflug und einem verrosteten Kinderwagen“ beschrieben. „Die Schau lief unter dem Radar. Theoretisch hätte man etwas kaufen können, aber es war klar, dass wir nichts verkaufen würden. Tinguely hat gesagt, wenn ihr die Skulptur nicht verkauft, schmeißt sie einfach in einen Kanal.“

Die Ausstellung lief von Juni bis Anfang Juli 1960. Das Happening jedoch war nicht geplant, sondern wurde erst von einem tragischen Ereignis inspiriert. Lebel und seine Freunde erfuhren aus der Zeitung, dass Jouffroys neunzehnjährige Stieftochter Nina Thoeren ermordet worden war. „Wir alle liebten und verehrten sie“, sagt Lebel traurig. „Jeder in Venedig kannte sie. Sie war von einer so unglaublichen Schönheit und Anmut, dass jeder im Raum verstummte, wenn sie irgendwo erschien. Sie war unsere Venus!“ Nina Thoeren hatte Anthropologie in Los Angeles studiert und fiel dort einem Serienmörder zum Opfer, einem Bibelverkäufer, der sie vergewaltigte und mit ihren eigenen Strümpfen erdrosselte. „Diese geradezu emblematische Tragödie ereignete sich genau während unserer Ausstellung ›Anti-Proces‹,“ erklärt Lebel. „Wir mussten etwas tun, zum Gedenken an Nina. Ich erinnerte mich daran, was Tinguely gesagt hatte, rief ihn an und fragte, ob wir seine Skulptur als Hommage an Nina versenken dürften. Er sagte sofort zu.“ Sie ließen eine Karte drucken und luden die Trauergesellschaft in den altehrwürdigen Palazzo Contarini-Corfú ein, in dem der exzentrische amerikanische Musiker Frank Amey mit seiner adligen venezianischen Frau lebte und in dem auch Nina Thoeren gewohnt hatte. Amey schminkte sich an diesem Tag wie die anderen, die als Sargträger auftraten, die Augen dunkel. In der Kapelle des Palazzos brannten meterhohe Kerzen. Tinguelys „Chose“ stand auf dem Terrazzoboden und war mit einem prächtigen Fortuny-Stoff bedeckt und mit Blumen geschmückt. Zu den mehr als hundert Gästen zählten Peggy Guggenheim und Virginia Dortch Dorazio ebenso wie die amerikanischen Dichter der Beat-Generation Alan Ansen und Gregory Corso, der britische Kunsthistoriker Harold Acton, der französische Künstler Guy Harloff und die mexikanische Schauspielerin Pilar Pellicer. Verschleierte Klageweiber schrien und sangen, es gab lateinische Hymnen und Tonaufnahmen von Frank Ameys avantgardistischer Klaviermusik, von Straßenlärm, Stimmen in verschiedenen Sprachen und sexuellem Stöhnen. Der Dichter Gregory Corso masturbierte zu der subversiven Zeremonie hinter einem Vorhang, was nicht ungewöhnlich für ihn war, merkt Lebel an, das habe er oft vor Dichterlesungen getan, um seine Nerven zu beruhigen. Schließlich las Lebel aus der „Philosophie im Boudoir“ des Marquis de Sade vor und erstach die Skulptur symbolisch mit einem langen Messer. Die Leichenpredigt endete mit Gebeten. „Manchmal,“ sagt er, „ist eine Tragödie der Beginn von etwas Schönem.“ Amey, Lebel, Ansen und der Violinist Ronny Valpreda trugen die verhüllte Skulptur durch die engen Gassen und luden sie auf ein gemietetes Ruderboot. Peggy Guggenheim hatte außerdem Gondeln zur Verfügung gestellt, sodass rund 50 Gäste an Bord gehen konnten. „Während unserer langsamen Fahrt blieben die Menschen auf den Brücken und am Ufer stehen, bekreuzigten sich und nahmen ihre Hüte ab, denn sie dachten, unter dem Tuch befände sich tatsächlich eine Leiche. So erreichte das Happening die Gesellschaft.“

Lebel kennt die Bilder der Fotografen, die alle an Land geblieben waren, und hat sie in seinen Büchern veröffentlicht. Aber es gab bisher keine Fotos vom Höhepunkt des Happenings, die zeigen, wie Tinguelys Skulptur im Wasser verschwand. „Es war wie bei einer Seebestattung. Wir dachten an unsere Venus, die Schaumgeborene, und übergaben die Skulptur dem Wasser.“ Auf dem ersten Foto kann man Lebel erkennen, wie er kurz vor der Abfahrt im dunklen Anzug und Krawatte ganz hinten im Boot steht, vor ihm der Poet Alan Ansen. Auf dem nächsten Bild ist im Hintergrund die Insel Giudecca mit dem Portikus von Sant’ Eufemia auszumachen, während Amey die Skulptur packt. Links hockt Gregory Corso in hellem Anzug mit dunkler Krawatte, und am rechten Bildrand ist im verschwommenen Profil einer Zuschauerin vielleicht Peggy Guggenheim zu erkennen. Jemand hält den Finger hoch, wie um den Countdown anzugeben, dahinter stehen Lebel und Amey, der Tinguelys Skulptur an einem Eisenrad hält – und schließlich ist „La Chose“ vom Wasser verschluckt. „Ich habe immer gesagt, wir hätten sie vor dem Hotel Danieli versenkt. Dort haben sogar Taucher danach gesucht“, erinnert sich Lebel lachend. „Aber wir haben ja gerade ein Statement gegen den Kunstmarkt machen wollen.“ Jetzt hat er ein wenig Bedenken, dass durch die neu aufgetauchten Fotos Schatzsucher auf die Idee kommen könnten, an der richtigen Stelle zu suchen – immerhin sind die Kirche Santa Maria del Rosario dei Gesuati und die Vaporetto-Station Zattere als Anhaltspunkte zu identifizieren. „Es wäre jetzt genau das Falsche, die Skulptur wieder herauszuholen“, sagt er. „Ich hoffe, sie ist tief im venezianischen Schlamm versunken.“ Mag sie im Salzwasser der Lagune längst verrostet sein, so sind die Bilder eine Gelegenheit, sich erneut an die unkonventionellen Künstler zu erinnern, die Teil des ersten europäischen Happenings waren – und an die Fotografin Virginia Dortch Dorazio, die etwas von der Magie dieses Augenblicks festgehalten hat.

Service

AUSSTELLUNG

„Jean-Jacques Lebel. ,La Chose‘ de Tinguely, quelques philosophes et ,Les Avatars de Vénus’“,

Museum Tinguely, Basel,

13. April – 18. September 2022

tinguely.ch

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