Hans Ulrich Obrist

„Kunst muss transnational bleiben“

Seit zehn Jahren befragt Christoph Amend in seiner Kolumne für die Weltkunst den Kurator Hans Ulrich Obrist. Ein Jubiläumsgespräch über Nachhaltigkeit, das Ende der klassischen Ausstellung und ein Archiv der Erinnerungen

Von Christoph Amend
31.03.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 197

Ein anderer Name, der sich durch unsere Gespräche zieht, ist Gerhard Richter. Ihn haben Sie früh in Ihrem Leben kennengelernt, seitdem haben Sie beide immer wieder zusammengearbeitet. Im Februar ist er 90 geworden.

Ja, wir haben kurz miteinander telefoniert.

Wie geht es ihm?

In den letzten Jahren hat er viele Zeichnungen gemacht, das ist faszinierend, seit drei, vier Jahren malt er ja keine Ölbilder mehr. Es sind vor allem Bleistiftzeichnungen, die ausradiert werden. Wie bei seinen Gemälden: Die Addition entsteht durch Subtraktion. Sorry, ich schaue nur mal kurz, ob mit dem Elektriker alles in Ordnung ist, ja?

Klar.

Alles gut, er ist gleich fertig.

Jetzt hat es bei mir gerade geklingelt. Warten Sie bitte, ich bin gleich zurück.

Wer hat denn bei Ihnen geklingelt?

Ein Bote. Das ist auch etwas, das es so vor ein paar Jahren nicht gab. Es ist Mittwoch früh, und wir nehmen unser Gespräch von Homeoffice zu Homeoffice auf.

Stimmt, eine Veränderung durch die Pandemie, die wohl nicht mehr verschwinden wird. Wobei ich glaube, dass wir sehr darauf achten müssen, sobald es wieder regelmäßig möglich ist, uns mit den Teams im Büro persönlich zu treffen. Auch hier wird es zukünftig hoffentlich eine Mixed Reality geben, ein Sowohl-als-auch und nicht ein Entweder-oder. Wobei ich durch die Pandemie noch ein drittes Office für mich entdeckt habe: den Park. Ich mache mittlerweile sicher die Hälfte meiner Meetings in Kensington Gardens. Nach unserem Gespräch treffe ich mich zum Beispiel mit dem Schriftsteller Adam Thirlwell, um eine Ausstellung zu besprechen zu einer Frage, die uns beide seit Jahren beschäftigt: wie man Literatur kuratieren kann.

Begegnung in der Video-App: Hans Ulrich Obrist und Weltkunst-Herausgeber Christoph Amend. © Christoph Amend

Einige Veränderungen der letzten Jahre können wir hier nur kurz streifen – was denken Sie eigentlich über NFTs?

Als ich vor fünf Jahren Vitalik Buterin interviewt habe, den Erfinder der Blockchain-Plattform Ethereum, wurde mir zum ersten Mal klar, dass uns eine fundamentale Dezentralisierung unserer Welt bevorsteht. NFTs kamen etwas später, bislang sind sie vor allem eins: eine weitere, wichtige Einnahmequelle für Kunstschaffende, außerhalb des bisherigen Kunstmarkts. Viele können jetzt leichter von ihrer Arbeit leben. Das ist sehr positiv. Und sie verdienen auch bei Wiederverkäufen mit. Nachhaltigkeit ist hier ein Thema, noch sind die meisten Blockchains das Gegenteil von nachhaltig, sie verbrauchen unglaublich viel Energie.

Und künstlerisch?

Das dauert immer bei einem neuen Medium. Es war auch beim Fernsehen nicht so, dass Nam June Paik seine ersten bedeutenden Fernsehskulpturen sofort nach der Einführung des TV geschaffen hat. Der Andy Warhol der NFT-Blockchain-Ära: Vielleicht gibt es ihn oder sie schon, aber noch sind sie im Underground. Ich bin da sehr neugierig.

Zum Schluss wie immer eine Frage, die sich auf das bezieht, was außerhalb der Kunstwelt passiert – aber diesmal auch im Kontext unserer zehn Jahre. Ich war überrascht, wie oft in unseren Gesprächen der Musiker Kanye West auftaucht.

Das ist interessant. Ich hatte vor neun Jahren in Miami ein Gespräch mit ihm und dem Architekten Jacques Herzog, weil Kanye unbedingt Herzog kennenlernen wollte. Er macht höchst problematische Aussagen, aber was mich an ihm von Anfang an interessiert hat: Er bringt verschiedene Sphären zusammen. Das ist auch ein zentraler Aspekt meiner Arbeit, die Verbindung von Kunst, Musik, Architektur und Literatur. Kanye war jetzt sogar auf Platz eins in den Charts für religiöse Musik.

Was sind Ihre neuesten Pläne?

Ich arbeite gerade an einem großen Projekt, mit dem wir Kunst und Fußball zusammenbringen wollen. Das kommt 2023. Auch darüber müssen wir dann unbedingt reden.

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