Seit zehn Jahren befragt Christoph Amend in seiner Kolumne für die Weltkunst den Kurator Hans Ulrich Obrist. Ein Jubiläumsgespräch über Nachhaltigkeit, das Ende der klassischen Ausstellung und ein Archiv der Erinnerungen
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31.03.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 197
Sie reisen heute anders als früher.
Ja. Ich verbringe mehr Zeit an einem Ort. Vielleicht werden wir in Zukunft auch mehrere Kolumnen machen über eine längere Reise zu einem Ort auf der Welt, wer weiß. In der Serpentine Gallery haben wir übrigens noch zwei weitere neue Abteilungen gegründet, eine für Civic Curation, also für zivilgesellschaftliches Kuratieren, und eine für Technologie.
Was kann man sich konkret darunter vorstellen?
Tim Berners-Lee hat das World Wide Web 1989 erfunden, aber es hat relativ lange gedauert, bis die Technologie auch das Ausstellungswesen verändert hat. Die Musikindustrie wurde viel früher durchgerüttelt. Mittlerweile gibt es in der Kunst zu fast jedem Projekt auch eine virtuelle Dimension, so wie bei unserem Marathon, der Mixed Reality sein wird. Oder bei der Ausstellung von Dominique Gonzalez-Foerster, die wir im April eröffnen: ganz selbstverständlich auch mit AR und VR.
Augmented Reality und Virtual Reality.
Ja. Andererseits wird die Ausstellung auch physisch, haptisch erfahrbar sein. Es geht also immer um beides. Dadurch ist ein Teil der Ausstellung immer in der ganzen Welt zugänglich. Heute ist die Gaming-Industrie größer als die Film- und Musikindustrie zusammen. Früher haben Künstler Videospiele dekonstruiert, heute erfinden sie selber welche. Das ist auch das Thema der Ausstellung, die ich in diesem Sommer für die Julia Stoschek Collection in Düsseldorf mache. Und für meine Arbeit in London bedeutet es, dass im Grunde eine zweite Serpentine entstanden ist. Nicht nur im Grunde, sondern auch ganz konkret. Kaws …
… der New Yorker Künstler Brian Donnelly …
… hat im Game „Fortnite“ die Serpentine Gallery nachgebaut, das haben sich zehn Millionen Menschen angeschaut. Am Tag. Normalerweise haben wir eine Million Besucher im Jahr. Insgesamt hatte die Ausstellung in „Fortnite“ 100 Millionen Besucher.
Was genau macht Ihre Abteilung für Civic Curation?
Da gehen wir mit der Kunst in die Gesellschaft rein. Wir wollen nicht mehr warten, bis die Menschen zu uns ins Museum kommen. Zumal viele Menschen nie ein Museum besuchen würden, einfach weil sie denken, dass das nicht für sie gemacht wurde. Oder weil es schlichtweg kompliziert für sie ist, ins Stadtzentrum zu fahren, wo die Museen nun mal meistens sind. Wir sind beispielsweise nach Barking und Dagenham gegangen, einem Teil von London mit extrem hoher Arbeitslosigkeit, und bringen gemeinsam mit dem Londoner Bürgermeister die Kunst dorthin. Wir haben auch eine feste Künstlerresidenz dort eingerichtet, Sonia Boyce war beispielsweise da, in diesem Jahr macht sie ja den englischen Pavillon bei der Biennale in Venedig. Und Rory Pilgrim hat mit den Leuten vor Ort gemeinsam Filme produziert, die wir wiederum zurück in die City bringen, wir zeigen sie in Kensington Gardens.
Ich habe mir zur Vorbereitung unseres Gesprächs alle Kolumnen durchgelesen, und es gibt einige Namen, die immer wieder auftauchen. Eine sehr oft von Ihnen genannte Künstlerin ist interessanterweise die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker.
Oh ja. Das gehört ja auch zu den roten Fäden, die sich durch unsere zehn Jahre ziehen: Immer wieder junge Künstlerinnen und Künstler vorstellen und gleichermaßen gegen das Vergessen der alten Künstlerinnen und Künstler zu protestieren. Amnesie ist im digitalen Zeitalter weiterhin sehr verbreitet, und dagegen anzugehen – diese Leidenschaft teilen wir beide ja. Bei mir hat das in Deutschland angefangen, als ich im Alter von 17 Jahren Rosemarie Trockel in Köln besucht habe, die damals Mitte 30 war. Sie hat mir gesagt, sie sei natürlich begeistert, dass ich junge Künstlerinnen wie sie besuche. Damals wurde gerade Louise Bourgeois entdeckt, die bereits im hohen Alter war, und Rosemarie Trockel sagte, dass es überall unentdeckte Künstlerinnen in diesem Alter gäbe. Ich solle doch von Stadt zu Stadt ziehen und fragen: Wer ist eure Louise Bourgeois? Am nächsten Tag bin ich mit dem Zug von Köln nach Wien gefahren, habe dort mehrere junge Künstler besucht und ihnen die Rosemarie-Trockel-Frage gestellt. „Lassnig“, war die Antwort, „geh zu Lassnig.“ Ich habe im Telefonbuch nachgeguckt, Maria Lassnig einfach angerufen und dann den Nachmittag mit ihr verbracht. Irgendwann hat sie ein Buch aus ihrem Regal gezogen, den „Rosengarten“ von Friederike Mayröcker, illustriert mit einer Lassnig-Lithografie. „Du musst mal Bücher von ihr lesen“, hat sie gesagt, „Sie ist eine der größten Schriftstellerinnen deutscher Sprache.“ Ich habe also anfangen, ihre Bücher zu kaufen, habe aber nie so richtig Zugang gefunden … Entschuldigung, es hat gerade geklingelt, können Sie kurz warten?
Klar, kein Problem.
Ich musste dem Elektriker die Tür aufmachen, er repariert ein kaputtes Licht, und ich musste ihn durch die Wohnung führen, hier stehen ja überall Bücherstapel herum. Man muss da sehr aufpassen, sonst bricht alles zusammen. So ähnlich wie in der Wohnung von Friederike Mayröcker, da gab es auch diese unglaublichen Stapel.
Wie kam der direkte Kontakt zu Mayröcker zustande?
Als Maria Lassnig schwer krank wurde, hat sie mich bei einem meiner Besuche gefragt, was ich in Wien machen werde, wenn sie nicht mehr da sei. Ich wusste es auch nicht. Sie habe eine Idee, sagte sie: „Du wirst meine Freundin Friederike Mayröcker treffen.“ Maria hat uns beide dann zusammengebracht, das war magisch.
Mit Friederike Mayröcker hatten Sie eine enge Freundschaft ebenso wie zu der Künstlerin Etel Adnan, beide sind im vergangenen Jahr gestorben.
Sie sind mir beide sehr präsent. Zurzeit arbeite ich daran, die vielen Gespräche, die ich mit Mayröcker geführt und in meinem Archiv gesammelt habe, als Buch zu veröffentlichen. Etwas Ähnliches habe ich auch mit den Etel-Adnan-Gesprächen vor. Als wir mit der Kolumne begonnen haben, war mein Archiv noch in Berlin, ich habe damals auch dort noch geschrieben, mittlerweile ist es in Arles und wird mithilfe der Luma-Stiftung wissenschaftlich aufbereitet. Es sind über 60.000 Bücher. Mit Etel Adnan habe ich über 60 Gespräche geführt, viele wurden auch gefilmt, zurzeit werden sie geschnitten, damit wir sie in diesem Sommer präsentieren können.
Was heißt das eigentlich: ein solches Archiv wissenschaftlich aufzubereiten?
Sie müssen sich das so vorstellen: Es gibt mehrere Archive in diesem Archiv.
Wie das?
Zum Beispiel die Künstlerkartons, das habe ich von Kasper König gelernt …
… dem legendären deutschen Kurator.
Man legt die Einladungen, Kataloge, einfach alles, was man von einem bestimmten Künstler hat, in einen Karton. So entsteht Ordnung in der Unordnung. Im Karton herrscht Unordnung, aber man kann alles gut finden, weil es dort hineingeworfen worden ist.
Wie viele Kartons gibt es?
Ein paar Hundert. Und dann gibt es natürlich auch sehr viele Schachteln zu meinen eigenen Ausstellungen. Ich habe übrigens auch alle Absagen, die ich in meinem Leben von Künstlern bekommen habe, gesammelt, also die Briefe und Mails. Liam Gillick will daraus jetzt ein Buch machen.