Gerhard Richter wird 90

Annäherungen an Gerhard Richter

Deutschlands berühmtester Künstler der Gegenwart wird 90 Jahre alt. Über sein Werk zu sprechen überließ er stets am liebsten anderen. Fünf Stimmen aus der Redaktion

Von WELTKUNST Redaktion
08.02.2022

Der Popstar

Im Westen sollte doch eigentlich alles bunter sein. Der gebürtige Dresdner Gerhard Richter scheint das in den Sechzigerjahren allerdings etwas anders wahrgenommen zu haben: 1961 aus der DDR nach Düsseldorf geflohen, veranstaltete er zwei Jahre später einen lustigen Performance-Abend in einem Möbelhaus zum Thema „Kapitalistischer Realismus“ und ließ gleichzeitig aus seinen Leinwänden die Farbe heraus – Wäschetrockner, Klorollen, Gardinen, Sportwagen, Millitärflugzeuge, alles erschien in Grautönen. Richter malte von Fotos und Zeitungsbildern ab, deutete oft verwischte Unschärfe an. Das war Pop-Art in höchster semantischer Ambivalenz. Aber eben doch: Pop. Die volle Wucht dieser Bildsprache demonstrierte Richter später 1988 in seinem Opus magnum, dem Zyklus „18. Oktober 1977“ zur Roten-Armee-Fraktion (RAF). Als die 15 Bilder im Jahr 1995 vom New Yorker MoMA gekauft wurden, fertige das anonym arbeitende Label Susi Pop pinke Cover-Versionen der Werke an und stellte sie unter dem Titel „Der Schnurrbart der Ulrike Meinhof“ (1995/2001) aus. Diese ironischen Aneignungen gaben dem Pop die Farbe zurück, vielmehr aber bewiesen sie eines: Nur wer zitiert wird, darf sich zweifelsfrei als Teil der Kunstgeschichte fühlen! Von Tim Ackermann

Susi Pop Gerhard Richter
„Der Schnurrbart der Ulrike Meinhof – Jugendbildnis 1996" des Labels Susi Pop. © Courtesy Zwinger Galerie

Die erste Begegnung

Ich war achtzehn, und ich war zum ersten Mal in London. Zu unserem Geburtstag hatten meine Eltern meinem Zwillingsbruder und mir eine Reise nach England geschenkt. Wir liefen durch die nasskalten Straßen der Hauptstadt, unsere Vorurteile über das scheußliche Wetter in England bewahrheiteten sich zumindest an diesem Wochenende. Um dem Regen zu entkommen, flüchteten wir uns in die Tate Modern. Vor dem „Abstrakten Bild (809-3)“ blieb ich auf einmal fasziniert stehen. Ungefähr zwei mal zwei Meter groß war dieses Ölgemälde – leuchtend gelbe Farbe, die sich durch das Reiben und Kratzen auf der Oberfläche mit den anderen Farbschichten verband. Ich las den Namen auf dem Schild: Gerhard Richter.

Das war der Moment, in dem ich mich entschied, Kunstgeschichte studieren zu wollen. Ob aus Faszination für das Werk selbst oder aus dem Wunsch heraus, es irgendwie zu verstehen, kann ich heute nicht mehr sagen. Nun wird Gerhard Richter neunzig Jahre alt. Mein Bachelor in Kunstgeschichte ist bereits seit ein paar Jahren abgeschlossen, mittlerweile bin ich in meinem vorletzten Mastersemester Kunstwissenschaft angekommen. Und an der Faszination für Gerhard Richters abstraktes Werk hat sich bis heute nichts geändert. Von Lisa-Marie Berndt

Wider den Motivmuff

Als Kunstkritiker habe ich immer wieder über Richter geschrieben, Gelegenheiten gab es genug. Ohne ihn ist die Kunstgeschichte nach 1960 nicht denkbar. Er prägte und prägt nach wie vor eine ganze Epoche der Malerei. Dafür musste er die Malerei und alles Malerische erst einmal tilgen, um überhaupt noch malen zu können. In Zeiten von Pop-Art, Minimal und Konzeptkunst nahm er den Umweg über die Fotografie und durchforstete in einer neuartigen Form der Geschichtsreflexion den Motivmuff der bundesdeutschen Nachkriegsrealität: Onkel Rudi, Tante Marianne, Wäschetrockner, Frau mit Kind oder Horst mit Hund, Banalitäten aus Stadt und Land. Sie alle eignete er sich in seinem charakteristisch verwischten Malstil nach Fotovorlagen an.

Über die Jahre lotete Richter ganz unterschiedliche Medien und Methoden aus – von völlig monochromen Flächen bis zu den höchst sinnlichen, farbglühenden Abstraktionen, mit denen er in den Achtzigern begann. Trotz aller Sprünge und Paradoxien blieb sich Richter immer treu, alles passt zusammen. Jedes seiner Bilder hat eine ganz eigentümliche, irgendwie auch romantische Aura; mich hat kaum etwas von ihm je kalt gelassen. Enttäuscht war ich allerdings von ihm, als er in den späten Neunzigern im Foyer des umgebauten Reichstagsgebäudes vor seiner eigenen Idee zurückschreckte, nämlich Fotos von Konzentrationslagern mit seiner malerisch-konzeptuellen Methode an diesem deutschen Ort zu verarbeiten. Stattdessen trieb er den Konzeptualismus auf die Spitze und adaptierte die Bundesflagge, indem er beschichtete Glasplatten in Schwarz-Rot-Gold ins wiedervereinigte Parlaments hängte. Das empfinde ich bis heute als ziemlich banal. Seinen Rang als einer der bedeutendsten Künstler unserer Zeit hat das aber nicht geschmälert. Von Sebastian Preuss

Ein Fenster zur Ewigkeit

Um die katholischen Kirche ist es nicht gut bestellt. Nicht nur im einst so frommen Erzbistum Köln treten die Gläubigen derzeit scharenweise aus. Auch der verstorbene Kardinal Meisner, langjähriger Erzbischof in der Domstadt, gilt wegen seines Umgangs mit sexualisierter Gewalt heute als belastet. Im Jahr 2007, als das von Gerhard Richter entworfenen Fenster im Südquerhaus des Kölner Doms eingeweiht wurde, war Meisner hingegen noch ein mächtiger Mann. Doch zum Glück nicht mehr mächtig genug, um Richters gläsernes Kunstwerk zu verhindern. „Es passt eher in eine Moschee oder ein Gebetshaus“, so damals das abschätzige Urteil des Kardinals.

Für mich ist das Kirchenfenster in Köln Gerhard Richters schönstes, großartigstes, außerordentlichstes Werk. Vielleicht gerade weil Richter hier dem Zufall Raum gab – die Anordnung der farbigen Glastafeln bestimmte er nicht selbst, sondern ein Computer –, eröffnet dieses Werk des bekennenden Agnostikers eine metaphysische Dimension. Es ist ein Werk, das Bestand hat, das auch den Bedeutungsverlust der Kirche überstehen wird, das in seinem stillen Leuchten Generationen überstrahlt und mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit noch da sein wird, wenn wir alle längst Staub sind. Es ist etwas, was sich Kunstschaffende in allen Zeiten erträumten: ein Fenster zur Ewigkeit. Von Simone Sondermann

Jedes Wiedersehen ein Schock

Elf Jahre brauchte Gerhard Richter, um sich malend mit dem „18. Oktober 1977“ auseinander zu setzen. Beschäftigt hat ihn der kollektive Selbstmord der ersten RAF-Generation in Stammheim lange zuvor, doch erst aus dieser zeitlichen Distanz heraus gelang ihm ein Zyklus von unbeschreiblicher Wucht. Basierend auf dokumentarischen Fotos und mit der für ihn typischen Verwischung lieferte Richter 15 Motive, die den Zustand der damaligen Bundesrepublik spiegeln. Brutale Szenen wie die Bilder „Erschossener 1“ oder „Tote“ hängen neben scheinbar Nebensächlichem wie „Plattenspieler“.

Für mich zählt „18. Oktober 1977“ zum Besten in Richters Werk. Kaum etwas wurde so sehr diskutiert, verdammt und gelobt. Das Erschrecken des Künstlers vor der Radikalität der RAF spricht ebenso aus dem Zyklus wie das Nebulöse, das sich mit dem Tod dreier Terroristen in einem Hochsicherheitstrakt verband. Schon damals wucherten die Mythen … Die Gemälde wirken bis in die Gegenwart, jedes Wiedersehen ist ein Schock. 1995 kaufte sie das New Yorker MoMA aus dem Museum für Moderne Kunst in Frankfurt heraus, wo „18. Oktober 1977“ als Leihgabe hing – für drei Millionen Dollar. Richter selbst vermutete in den Staaten mehr Sentiment für die „generelle Gefahr von Ideologiegläubigkeit, Fanatismus und Wahnsinn“. Heute wäre der Zyklus auch bei uns genau am richtigen Ort! Von Christiane Meixner

 

Service

Ausstellungen

„Gerhard Richter. Birkenau-Zyklus, Zeichnungen, Übermalte Fotos“

bis 24. April,

Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen,

kunstsammlung.de

„Gerhard Richter: Portraits. Glas. Abstraktionen.

5. Februar bis 1. Mai,

Albertinum, Dresden,

albertinum.skd.museum

„Gerhard Richter Künstlerbücher“

10. Februar bis 29. Mai,

Neue Nationalgalerie, Berlin

www.smb.museum

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