Gerhard Richter

Gleichgültigkeit und Glaube

Mit seinem heterogenen Werk zwischen Geschichtsmalerei und konzeptuellen Farbtafeln dominiert Gerhard Richter seit Jahren den Kunstbetrieb. Am 9. Februar feiert er seinen 90. Geburtstag. Zwei langjährige Kenner geben Einblick in die Höhen und Tiefen seiner Malerei

Von Eckhart Gillen und Eduard Beaucamp
03.02.2022

EIN GLÄUBIGER ZWEIFLER

von Eckhart Gillen

Seit 2004 ist Gerhard Richter ohne Unterbrechung die Nummer eins des Kunstkompasses. Entscheidend für dieses Ranking sind Ankäufe renommierter Museen, Ausstellungen und Nennungen in führenden Kunstzeitschriften. „Qualität, intellektueller Anspruch oder Ästhetik“, so Willi Bongard über die von ihm entwickelte Skala, werden nicht gewertet.
Die Frage nach der Qualität und Ästhetik rührt aber an den Kern von Gerhard Richters Selbstverständnis. Sie bestimmt seinen permanenten Kampf um Sinn, Bedeutung und Anerkennung seines Berufs als Maler unter den grundsätzlich unterschiedlichen Bedingungen der sozialistischen DDR und der kapitalistischen BRD. Denn Richter macht es sich nicht leicht. Zwei Monate nach seiner Übersiedlung von Dresden nach Düsseldorf im März 1961 schreibt er an den Künstlerfreund Wieland Förster in Ost-Berlin: „Ich will nicht mehr denken (…) ob es gerechtfertigt ist, dass ich male. Ich weiß jetzt, dass Malen mein Beruf ist.“ Der Westen hat ihm klargemacht, dass hier dieser Beruf des Malens seine Weise zu leben regeln wird – und nicht umgekehrt. Kein anderer Künstler hat vor dem Hintergrund seiner Erfahrung als anerkannter Wandbildmaler im sozialistischen Realismus, der mit 29 Jahren im Westen als Student noch einmal ganz von vorn anfangen musste, so genau und so beharrlich die Grundlagen der künstlerischen Produktion in den beiden Systemen reflektiert.

Vorwürfe, sein ständiger Wechsel zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, High and Low, Pop und Klassik, Op-Art und düsterer Historienmalerei sei zynisch, seine Kunst total unverbindlich, ohne Inhalt und Substanz, gehen völlig vorbei am Kern seines Kunstkonzepts, das besagt: Ich habe kein Konzept, und das ist mein Konzept. Sein unbedingter Glaube an die Kunst und sein demonstrativ gemalter Unglaube an die Möglichkeit der Kunst heute wurden für Richter zum täglichen Credo quia absurdum: Ich glaube, weil es unvernünftig ist. Kein zweiter Künstler hat in seinen Schriften, Interviews und mit einem Studioporträt in Spielfilmlänge die Debatte um die Sinnhaftigkeit oder Absurdität der Malerei im Zeitalter der Neuen Medien und der Neoavantgarden so insistierend und so konsequent in aller Öffentlichkeit geführt. Wie kein anderer seiner Kollegen hat Richter sich dabei selbst in seiner Existenz als Künstler infrage gestellt. Seine Weltberühmtheit ist demnach nicht das Resultat von finsteren Machenschaften eines undurchschaubaren Kunstmarktes, sondern verdankt sich einer von ihm seit den frühen Sechzigerjahren konsequent geführten Auseinandersetzung – als öffentlich zelebriertes, permanentes Experiment im Atelier und in Ausstellungen weit mehr noch als durch all die Interviews und Texte.

Dass Richter im Gegensatz zu Kollegen wie Jörg Immendorff oder Anselm Kiefer, die ihre Konzept- und Aktionskunst zugunsten von narrativer Malerei und ästhetischer Überwältigungsstrategie aufgaben, Bilderstürmer und Bilderverehrer in einer Person geblieben ist, liegt in seiner Herkunft begründet. Der 2007 vollendete Auftrag des Kölner Domkapitels, das riesige, im Krieg zerstörte Südquerhausfenster der Kölner Kathedrale neu zu gestalten, sei hier als signifikantes Beispiel für die ständige Ambivalenz zwischen Unglauben und Glauben an den Primat der Kunst genannt. Die Auftraggeber wünschten sich von Richter eine figurative Lösung, die Darstellung von sechs modernen Märtyrern. Doch der bekennend nicht gläubige Künstler verweigerte diese Vorgabe und griff für seinen Entwurf auf eine Vorlage zurück, die seit mehr als 30 Jahren in seinem Fundus bereitstand, das letzte Bild einer umfangreichen Werkgruppe der Farbtafeln: „4096 Farben“ von 1974. Die Fensterfläche zwischen dem Maßwerk füllte er mit 11263 Farbquadraten in 72 verschiedenen Farbtönen aus; die Anordnung überließ er dem computergesteuerten Zufall.

Erwartungsgemäß empfand der Hausherr, Joachim Kardinal Meisner, die Gegenstandslosigkeit als beliebig und bedeutungsleer. Sie passe besser in eine Synagoge oder eine Moschee. Für den Erzbischof, so schrieb er damals in der FAZ, „entartet“ die Kultur, sie „verliert ihre Mitte“, wenn sie „von der Gottesverehrung abgekoppelt wird“. Meisner griff damit Hans Sedlmayrs berühmtes, 1948 publiziertes Buch Verlust der Mitte auf. Die Thesen des katholischen Hochschullehrers und ehemaligen NSDAP-Parteigenossen vom Zerfallsprozess abendländischer Kunst und Architektur ins Disparate, Chaotische und Absurde gingen auf dessen Vorlesungen der Dreißiger- und frühen Vierzigerjahre zurück. Gemeint war der Verlust des Menschen als Ebenbild Gottes. Mit dem ex cathedra verkündeten Verdikt seines Glasfensterkonzeptes durch den Kardinal holte Richter die eigene Vergangenheit in der DDR wieder ein, wo der Künstler zur Darstellung des sozialistischen Menschenbildes verpflichtet worden war. Er distanzierte sich von dieser Zumutung und erklärte immer wieder, man müsse den „Verlust der ›Mitte‹ bejahen, wie den Verlust der Gesinnung und Haltung und Individualität. Eine Reaktionsmaschine sein, labil, indifferent, abhängig. Sich aufgeben für die Objektivität. Subjektivität habe ich immer verabscheut.“
Bei aller „protestantischen“ Askese fügt sich das computergenerierte Kirchenfenster des bekennenden Agnostikers jedoch nahtlos in die vielstimmige Komposition der Kunstwerke im Dom ein, die seit Jahrhunderten dem Kultus dienen. Das »Richter-Fenster« ist trotz der konsequenten Verweigerung religiöser Symbolik Teil der theologischen Gesamtkonzeption der mittelalterlichen Kathedrale geworden, deren diaphane Wände einen von der Außenwelt abgeschlossenen, imaginären Lichtraum schaffen, der den Gläubigen als Vorschein des himmlischen Jerusalem, als Jenseits im Diesseits erscheint. Auf diese sakrale Konstellation hat sich Richter mit vollem Bewusstsein eingelassen.
Diese Ambivalenz findet sich auch in seinen „Abstrakten Bildern“. Gemäß der alten Parole der Avantgarde, die Erneuerung durch Zerstörung verhieß, realisiert er seit 1980 abstrakte Kompositionen. Mit Rakeln zieht er immer wieder Farbpartien ab und schichtet neue auf. Unter weitgehender Ausschaltung der eigenen Subjektivität wird der teils zufallsgesteuerte, teils kontrollierte Prozess des Wegnehmens und Hinzufügens so lange getrieben, bis Richter feststellt: Jetzt ist es „gut“, „schön“ und „wahr“. Ihm ist dabei aber immer bewusst, dass alle diese Fragen – warum ein Gemälde gut ist, warum es ihm aber am anderen Tag unbefriedigend erscheint, warum es schön ist, warum es überhaupt Kunst ist – nicht zu beantworten sind. Klar ist nur, er will an der Malerei festhalten, die er zugleich in Zweifel zieht.

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