Palmen in der Kunst

Es grünt so grün

Neben dem Weihnachtsbaum weckt kein anderes Gewächs so starke Emotionen wie die Palme. Wir denken an Oasen, einsame Ferienstrände und das immergrüne Paradies – und folgen dem Pfad durch die Kunstgeschichte bis in die Gegenwart

Von Tim Ackermann
05.08.2021
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 188

Rosiges Abendlicht färbt den Nebel in den Straßen. Schemenhaft ­erkennt man die Silhouetten von drei Palmen, die dem Blick Halt geben wie Leuchttürme in einem Meer des Nichts. David Hockney malte sie 1971 in seinem Bild „Mist“, sieben Jahre zuvor war er nach Los Angeles gekommen. Aufgrund ihrer hohen, extrem schlanken Stämme lassen sich die abgebildeten Palmen zweifelsfrei als Washingtonia robusta identifizieren, die beliebteste Palmenart in den Straßen der kalifornischen Westküstenmetropole, die dort dennoch nicht heimisch ist. Wie der Brite Hockney ist auch die Mexikanische Washingtonpalme in L.A. eine Zugezogene.

Die hohen Gewächse mit fächerförmigen Blättern gehören zum Image der Stadt. Das ist allerdings nicht naturgegeben, sondern das Resultat cleveren Planens: Im 19. und frühen 20. Jahrhundert importierte man Zehntausende Palmen aus der ganzen Welt und pflanzte sie in den Straßen, um neue Bewohner in das junge urbane Paradies zu locken. Noch im Jahr 1990 zählte man 75.000 Palmen in Los Angeles, Tendenz schwindend. Manche Menschen bleiben von diesen Pflanzen fasziniert, so wie Hockney, der sie oft in Bildern auftauchen ließ und auch in seinem Meisterwerk „A Bigger Splash“ (1967) hinter Pool und Bungalow zwei Palmen in den Himmel streben lässt. Für andere jedoch überragt ihr Anblick längst nicht mehr den gewohnten Alltag, wie der Maler ebenfalls bemerkt hat: „Manchmal braucht es einen Fremden, um einen Ort zu sehen und ihn zu malen. Ich erinnere mich, dass mir jemand mal gesagt hat, dass ihm die Palmen hier nie aufgefallen sind, bis ich sie gemalt habe“, sagte Hockney 2001 in einem Interview mit der Zeitung The Telegraph.

Palmen Annette Kelm
Annette Kelms Fotografie „Makramee Shoe“ entstand 2019. © Courtesy of the artist and KÖNIG GALERIE Berlin, London, Seoul

Die Palme kann symbolhaft sowohl für die Sehnsucht stehen als auch für das Angekommensein. In Martin Johnson Heades Gemälde „Sunrise in Nicaragua“ von 1869 wächst sie als einzelne Pflanze mit doppeltem Stamm und Krone absichtsvoll positioniert in der Bildmitte. Sie zieht die Betrachter förmlich hinein in eine verwunschene, menschenleere Dschungellandschaftsfantasie. Offensichtlich zeigt der Künstler uns ein unerreichbares Paradies, sein Bild weckt eine Sehnsucht, die nicht erfüllt werden kann. Die Werbung operiert mit solchen Traumszenen. Das Bild der einsamen Palme am Strand, das unser Fernweh weckt, ist Allgemeingut geworden. Jeder Reisende ahnt, dass das Erlebnis am Ziel von den Erwartungen abweichen wird. Als Lockvogel taugt die Palme dennoch.

In der Wüste versprechen ihre Blätter Schutz und Obdach. Die christliche Kunstgeschichte kennt das Motiv der „Flucht nach Ägypten“: Maria und Josef sind mit dem neugeborenen Jesus auf einem Esel unterwegs, um dem Kindermörder Herodes zu entgehen. Viele Maler fügten im Hintergrund eine Palme ein, um die Erzählung im Nahen Osten zu verorten. Ein Perfektionist wie der Colmarer Kupferstecher Martin Schongauer (1448–1491) verstärkte das exotische Flair, indem er daneben noch einen Drachenbaum wachsen ließ, der von den Kanarischen Inseln stammt. In Schongauers Stich von der „Flucht nach Ägypten“ (1470–1475) wird die Dattelpalme von Engeln gebeugt und bietet ihre Früchte den Fliehenden an. Das Bild folgte damit einer apokryphen, aber populären Variante der Geschichte. Andere Künstler wiederum hielten ihre Erzählung deutlich schlanker: In einem wundervollen Tondo des italienischen Renaissancemeisters Raffael aus dem Jahr 1506 rastet die Heilige Familie in einer kargen Landschaft. Eine einzelne Palme hat im Hintergrund schützend ­seine grünen Fächer ausgebreitet. Die Botschaft von Raffaels Gemälde scheint so schlicht wie eindeutig: Wer sich im Schatten ­einer Palme niederlässt, der ist zu Hause.

Palmen John Baldessari
In John Baldessaris „The Overlap Series: Palm Trees and Building (with Vikings)“ von 2001 sehen die Palmen von Los Angeles wie Pinsel aus, deren Köpfe wiederum zu Spritzern auf den Schildern der Wikinger werden. © Courtesy Estate of John Baldessari and Sprüth Magers

Denn diese Pflanze ist zweifellos ein wichtiger Begleiter der menschlichen Zivilisation: Ursprünglich als wildes Gewächs nur in den Tropen und Subtropen verbreitet, hat die Palme es als Zierpflanze unter Glasdächern in weitaus nördlichere Gefilde geschafft. Sie versorgt die Menschen nicht nur mit Nahrungsmitteln wie Früchten oder Nüssen, sondern auch mit Baumaterial. Gläubige Juden in Israel und aller Welt etwa decken heute noch zum Sukkot-Fest im Herbst Hütten mit Palmwedeln, um an das Volk der Israeliten zu erinnern, das bei seinem Auszug aus Ägypten in solchen Behausungen genächtigt haben soll. Manche Palmenarten haben es bis in die Spitze des Welthandels geschafft: Elaeis guineensis, die Ölpalme, war ursprünglich nur den Afrikanern bekannt, bis sie 1443 erstmals einem portugiesischem Seefahrer auffiel. Das europäische Kolonialsystem verpflanzte sie vor allem im 19. Jahrhundert nach Südostasien und Südamerika, wo sie mittlerweile in riesigen Plantagen kultiviert wird und die einheimische Flora und Fauna verdrängt. Umweltverbände kritisieren das scharf, doch mit produzierten 71 Millionen Tonnen im Jahr 2018 ist Palmöl weiterhin vor Sojaöl (rund 55 Millionen Tonnen) der Topseller unter den Pflanzenölen in unserer industriell geprägten Weltwirtschaft.

Wen wundert es da noch, dass der Palme immer wieder in Bildern gehuldigt wurde: In Schmuckreliefs aus den einstigen Palästen der assyrischen Hauptstadt Ninive kann man die hochgeschätzte Nutzpflanze genauso finden wie auf den blau glasierten babylonischen Ziegeln des Thronsaals von Nebukadnezar II. oder in den Wandmalereien altägyptischer Grabkammern. Über die Figur des Gottes Heh, der in Abbildungen zwei Palmenzweige in den Händen hält, die von den Ägyptern zur rituellen Zeitmessung genutzt wurden, war sie mit dem Gedanken der Unendlichkeit verbunden. Die Architekten des antiken Griechenlands zählten die Palmette zu ihren Lieblingszierornamenten, die griechische Siegesgöttin Nike und ihre römische Entsprechung Victoria winken mit einem Palmwedel als Zeichen des Triumphs. In der christlichen Bildwelt ist den Märtyrern neben dem individuellen Folterwerkzeug, das sie als Leidende auszeichnet, als Attribut auch oft ein Palmenzweig in die Hand gegeben – als symbolisches Zeichen für den Sieg des Geistes über das Fleisch. Als Christus auf dem Esel in Jerusalem einritt, streute das Volk Palmwedel in seinen Weg, um den vermeintlichen König der Juden zu feiern. Nicht nur in Giottos Fresko in der Scrovegni-Kapelle in Padua (1304–1306) sieht man den Randaspekt, dass die Menschen damals in die Bäume stiegen, um die Zweige frisch zu schneiden. Die Sache ­endete fünf Tage später am Kreuz, aber immerhin war die hübsche Tradition des Palmsonntags geboren.

Palmen Wilhelm Sasnal
Der polnische Künstler Wilhelm Sasnal hat für seine „Palms“ (2006) die grüne Farbe direkt aus der Tube auf die Leinwand gedrückt. © Wilhelm Sasnal/Christie’s Images Limited 2021

Doch Nutzen und Symbolgehalt sind wohl nicht allein die Gründe, warum die Palme das populärste Großgewächs der Kunstgeschichte ist. Eine wichtige Rolle spielt auch ihre prägnante, wiedererkennbare Form. Nur ein vertikaler Pinselstrich in Grün und ein paar weitere grüne Bögen am oberen Ende genügen dem britischen Maler Howard Hodgkin, um in seinem Werk „In Tangier“ (1987–1990) ein eindeutiges Bild zu schaffen. Als attraktiver Blickfang hat sie sich also auch in den Bildern der Moderne und Gegenwart durchgesetzt – ob als Naturpalme in Paul Gauguins Tahiti-Landschaften, als Promenadenpalme auf dem „Bretterweg von Nizza“ (um 1924), verewigt von Raoul Dufy, oder als robuste Großstadtpalme, über deren pittoreske Klischeehaftigkeit sich John Baldessari in Konzeptkunstwerken lustig machte: Beispielsweise stellte sich der Künstler aus Los Angeles zwischen 1966 und 1968 in einem Foto so gezielt dilettantisch-kompositorisch auf, dass es wirkte, als würde eine Palme aus seinem Kopf wachsen. „Wrong“ stand als Titel unter dem Foto: „Falsch“. Man möchte ihm widersprechen und sagen: „Genau richtig!“

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