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Hans Ulrich Obrist in Brasilien

Weltenbürger: Im virtuellen Raum befindet sich Hans Ulrich Obrist auf Instagram, im realen in Brasilien und schreibt ein Buch

Von Christoph Amend
26.09.2017

Was haben Sie gesehen, Herr Orbist?

Instagram. Das heißt, meinen Account. Er hilft mir dabei, Revue passieren zu lassen, was in letzter Zeit alles los war. Das ist übrigens wirklich interessant, ich hatte ja nie Zeit, selbst Tagebuch zu führen, aber ich habe festgestellt, dass Instagram mein Tagebuch geworden ist: Es ist chronologisch geordnet, und ich kann immer sehen, wann ich wo welche Künstler getroffen habe.

Und was sehen Sie, wenn Sie jetzt nachschauen? Mir fällt auf, während wir
miteinander telefonieren, dass Sie mittlerweile fast 200.000 Follower haben.

Ich arbeite gerade an einem Buch über Brasilien. Von dort hört man in letzter Zeit nur noch Hiobsbotschaften über die politische Situation. Da ist es wichtig, auch mal ein anderes Signal zu senden. Ich wurde von Frances Reynolds und ihrer Stiftung InclusArtiz eingeladen. Ich konnte dort eine Woche sein, um weiter an meinem Brasilienbuch zu arbeiten. Ich war vorher oft in Brasilien, diesmal habe ich besonders konzentriert Ateliers besucht. Die Dichte der Kunstszene dort ist fantastisch. 

Wann waren Sie zum ersten Mal dort?

1997 in São Paolo, aus Anlass der legendären Biennale von Paulo Herkenhoff, dem Kurator und Kritiker. Damals hat er historische Werke auf der Biennale eingeführt, das war eine der interessantesten Biennalen, die ich je gesehen habe. Der zweite Besuch ging 1999 nach Rio und São Paulo, wo ich Lygia Pape und Oscar Niemeyer besucht habe …

… den legendären Architekten, der fast 105 Jahre alt wurde …

… ja, das war mein erstes Gespräch mit ihm, an das ich mich auch deshalb so gut erinnere, weil es ungeheuer kompliziert war. 

Warum?

Vorher hieß es, man brauche keinen Übersetzer, weil er Italienisch und Französische spreche. Aber an dem Tag, er war damals schon über 90, hatte er keine Lust, Italienisch zu sprechen. Ich habe also meine Fragen auf Italienisch gestellt, und er hat mir in brasilianischem Portugiesisch geantwortet. Ich hatte keine Ahnung, was er sagte! Meine nächste Frage hatte also nichts mit seiner Antwort zu tun. Wir haben jedenfalls ein sehr eigenartiges Interview geführt. Man könnte fast sagen: Es war ein neues Format.

Wen haben Sie diesmal getroffen?

Es gab eine gemeinsame Begegnung mit Arthur Lindsay und Caetano Veloso, der uns an seinen alten Song erinnert hat (Abb.), der auf Deutsch „Es ist verboten zu verbieten“ heißt. Brasilien wird derzeit von einer demokratisch nicht legitimierten Regierung geführt, und so bekommen politische Slogans aus den Sechzigerjahren eine ganz aktuelle Relevanz. Wie ich überhaupt eine hochpolitisierte Kunstszene erlebt habe.

Das hat Sie positiv überrascht.

Ich habe viele junge Künstlerinnen und Künstler getroffen wie Cinthia Marcelle, die dieses Jahr auch den brasilianischen Pavillon in Venedig gestaltet hat. Und Pedro Victor Brandão, er arbeitet zum Beispiel mit Computerviren und Geldautomaten. Und in São Paulo gibt es das Cambridge Hotel, das von Obdachlosen, von Migranten aus der ganzen Welt besetzt wurde. Viele Künstler sind dort involviert. Wir haben da den Philosophen Peter Pál Pelbart gesprochen, er ist dort sehr engagiert, publiziert Pamphlete, das ist eine hochspannende junge Szene. 

Darauf konzentrieren Sie sich bei Ihrem Brasilienbuch? 

Nein, es wird eine Mischung aus der jungen zeitgenössischen Szene und den Pionieren. In Rio habe ich Anna Bella Geiger interviewt. Das ist eine ganz wichtige Figur für die Kultur in Brasilien, als Künstlerin, als Lehrerin, als Feministin. Sie ist Jahrgang 1933, hat ursprünglich jüdisch-polnische Wurzeln. Außerdem Antonio Manuel und die sehr bekannte Adriana Varejão, die gerade ihre neue Ausstellung aufbaute. Aber Brasilien ist nicht nur Rio und São Paulo. Zum Beispiel darf man Recife nicht vergessen, die quirlige Hafenstadt im Norden am Atlantik. Dort habe ich Bárbara Wagner und Benjamin de Burca getroffen, die ja im Sommer diese großartige Arbeit über Schlagermusik in der Disco bei den Skulptur Projekten in Münster gezeigt haben. 

Und was beschäftigt Sie derzeit außerhalb der Kunstwelt?

Ich lese das neue Buch von Emanuele Coccia, „Das Leben der Pflanzen: Eine Metaphysik der Mischung“. Der italienische Philosoph, der in Freiburg lehrt, sagt: Wir diskriminieren die Pflanzen, wir reden immer über Menschen und Tiere, aber die Pflanzen haben auch ein Leben, wir haben sie vernachlässigt. Für mich ist das Buch, obwohl noch nicht auf Deutsch erschienen, das Buch des Jahres. 

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