Vor fast 30 Jahren gründete sich das Kollektiv Chicks on Speed in München. Die Villa Stuck zeigt nun das anarchische Werk und kehrt nach der Sanierung mit einem Paukenschlag zurück
Von
06.11.2025
/
Erschienen in
Weltkunst Nr. 247
Trotz dieser für Popmusik eher untypischen Komplexität wurde einer der Songs ein Hit. „Kaltes klares Wasser“, den Chicks on Speed von der Berliner Punkband Malaria! übernommen hatten, kam auf Platz 16 der deutschen Popcharts. Bis heute spielt das Duo – Kiki Moorse stieg 2007 aus, seitdem verlassen sich die beiden für ihre Projekte auf ein mehr oder weniger festes Ensemble – tanzbaren Elektropop. Gleichzeitig hält es sich die Türen von Kunstinstitutionen wie dem Centre Pompidou, der Biennale von Venedig oder dem New Yorker MoMA offen. Letzteres lud Chicks on Speed 2006 im Rahmen seines Programms „PopRalley“ ein, hier performten sie gemeinsam mit dem Künstler Douglas Gordon.
Solche Kollaborationen sind Teil ihres Konzepts. Ebenfalls 2006 produzierte Alex Murray-Leslie im eigenen Chicks-on-Speed-Label die Compilation „Girl Monster“ mit drei CDs, auf denen Songs von Björk, Gudrun Gut, Barbara Morgenstern oder Peaches versammelt waren. Douglas Gordon produzierte seinerseits 2002 die Single „Fashion Rules“ von Chicks on Speed, die die Schnittstelle ihrer wechselnden Präsenz in der Musik- wie der Kunstszene markiert. „Fashion Rules“ ist ein Song über den Unsinn von Modediktaten. Man kann ihn sich pur anhören – oder ihn als Teil einer Performance erleben, wie sie etwa 2015 in der Bundeskunsthalle in Bonn aufgeführt wurde. Eine großartig absurdes Modespektakel zum Abschluss der Ausstellung „Karl Lagerfeld. Modemethode“ mit CoS auf der Bühne, deren Sprechgesang die scheinbar orientierungslosen Models anfeuerte, auf den Treppen des Museums zu stolpern und sich gestreifte Herrenhemden in immer neuen Improvisationen um die Körper zu winden.
Tatsächlich ist jede Performance einzigartig, die Inhalte entwickeln sich mit jedem Auftritt weiter. Stillstand wäre für Chicks on Speed gleichbedeutend mit künstlerischem Tod, sie haben sich ihre Spontaneität und Unabhängigkeit bewahrt. Auch wenn sie selbst inzwischen zum Establishment gehören: Alexandra Murray-Leslie als Professorin für digitale Performance an der Kunstakademie im norwegischen Trondheim, Melissa Logan als Speakerin auf Symposien, mit Workshops an Universitäten und ihrer Malerei. Dass auf die Modekritik von „Fashion Rules“ 2006 mit „Art Rules“ eine bissige Kunstmarktsatire folgte, hat die Liebe des Kulturbetriebs zu Chicks on Speed jedenfalls nicht erkalten lassen. Dabei ist ihre Polemik nicht zu überhören: „Where are all the women?“, singt Logan und beantwortet die Frage sehr doppeldeutig selbst: „They’re underneath the men.“
Den latenten Sexismus in der Musik- wie auch der Kunstszene ironisieren Chicks on Speed immer wieder. Aus dem Video „We Don’t Play Guitars“ von 2003, in dem es um die E-Gitarre als (phallisches) Symbol der Rockmusik und einen Diskurs aus jener Zeit geht, ob Musikerinnen überhaupt Gitarren nutzen sollten, resultierte ein neues Instrument: die High Heeled Shoe Guitar. Der Stöckelschuh, den Murray-Leslie trägt, ist mit drei Saiten versehen, in seiner Plateausohle verbirgt sich ein Mechanismus, der akustische Signale an einen Rechner schickt. Der „E-Schuh“ ist geboren, in späteren Auftritten sieht man das Kollektiv bald auch mit anderen Technologien experimentieren, die dank der Bewegung der Füße Elektrosounds erzeugen.
Tatsächlich geht es Chicks on Speed um in jeder Hinsicht grenzüberschreitende Interaktion. „My body is a weapon“, sangen sie in „Kaltes klares Wasser“, ihre körperliche Präsenz macht den Spaß am trashigen Auftritt authentisch. Absolut ernst ist dagegen der Protest gegen die von CoS identifizierte Macht des Patriarchats. Wenn das Museum Villa Stuck nach diversen Umbau- und Sanierungsmaßnahmen nun mit der Ausstellung „Utopia“ wiedereröffnet, wird das einstige Wohnhaus des Malers Franz von Stuck mit jüngerer, feministisch aufgeladener Zeitgeschichte geradezu geflutet. 30 Jahre Chicks on Speed offenbart sich in Filmen ebenso wie in der 300 Objekte umfassenden Kostümsammlung von Ensemblemitglied Kathi Glas, die seit 2006 dabei ist. Es gibt szenografische Gemälde und Banner sowie ein Archiv der selbst gebauten, tragbaren Musikinstrumente und Klangskulpturen; dazu sechs interaktive iPad-Apps, die in Zusammenarbeit mit dem ZKM Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe entstanden sind. Architektonische Objekte aus der vorangegangenen Ausstellung im spanischen Espai d’Art Contemporani von 2024 überformen die Villa aus dem späten 19. Jahrhundert mit eigenen Elementen und multimedialen Projektionen. Vor allem aber darf Museumsdirektor Michael Buhrs die Veröffentlichung einer neuen kunstvollen Box aus fünf Schallplatten feiern, die Songs wie „MEAT&drag“ enthält. Sehr lustig, aber eben auch ein zeitkritisches Dokument zur aktuellen Schlacht zwischen Veganern und Fleischliebhabern.
„Utopia“
Museum Villa Stuck in München
bis 1. März 2026
Am 17. Oktober erschien bei Grönland Records das Vinyl-Boxset „HEARtopia“ mit fünf LPs, Booklet und einem Seidentuch