Das Berliner Brücke-Museum widmet einer hierzulande fast vergessenen Expressionistin eine große Schau. Irma Sterns Leben und Werk zwischen Europa und Südafrika erzählt von den Widersprüchen des 20. Jahrhunderts
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09.10.2025
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WELTKUNST NR. 245
Sanft hält das Mädchen den Blumenstrauß umschlossen. Die kleinen Hände ruhen im Schoß. Sie hat sich für diesen Anlass fein gemacht und trägt vermutlich ihr Sonntagskleid, rot gemustert, mit weißem Spitzenkragen und einer Schleife, die schief sitzt. Ihr Gesicht ist dreieckig. Ein spitzes Kinn, die Nasenflügel leicht gerötet, breite Pinselstriche bringen Licht auf die Stirn. Ihre weit auseinanderstehenden großen Augen blicken zu ernst für ihr Alter. Sie ist dünn, das sieht man trotz des zarten Kleides, man meint, die harte Stuhllehne an ihrem Rücken zu fühlen.
Irma Stern schuf das Bildnis 1916, und es sollte ihr Leben verändern. Während der Erste Weltkrieg Hunger und Entbehrungen nach Berlin brachte, nahm sie Malstunden in der Lewin-Funcke-Schule. Ihr Lehrer Martin Brandenburg war Symbolist. Kurz zuvor hatte sie ihm noch ein Gemälde ganz in seinem Sinne präsentiert, eine träumerische Nackte in herrlicher Landschaft, doch dieses ausgezehrte Kind nun war gar nicht in Brandenburgs Sinne. Es kam zum Bruch, die 22-Jährige machte keine Kompromisse, und das obwohl die Studienmöglichkeiten für junge Künstlerinnen rar gesät waren. Doch Irma Stern ließ sich nicht beirren.
Kurz nach dem Ärger um „Das ewige Kind“, das nun in einer monografischen Ausstellung der Künstlerin im Berliner Brücke-Museum zu erleben ist, lernte Stern Max Pechstein kennen, der das Bild großartig fand. Es entwickelte sich schnell eine enge Freundschaft. Einem der ersten Briefe, die er ihr schrieb, fügte er gleich eine Zeichnung bei, darauf ist er angezogen zu sehen, sie nackt. Sie ließ ihn zweieinhalb Monate auf die Antwort warten und bedankte sich dann artig „für die nette Idee, mir eine Zeichnung darin zu senden“. Ob trotz oder wegen der erotischen Anziehungskraft, die Stern offenbar auf ihn ausübte – Pechstein unterstützte sie in den folgenden Jahren enorm. Er ermutigte sie, gab ihr Tipps für das für sie neue Medium der Lithografie und führte sie vor allem in die Berliner Kunsthändlerkreise ein. Erstaunlich schnell setzte sich die junge Malerin in den männerdominierten expressionistischen Zirkeln durch. Als einzige Frau wurde sie 1918 zur Gründung der Künstlervereinigung Novembergruppe eingeladen, in der man nach dem Ende der Monarchie auch künstlerisch den radikalen Neuanfang wagte. Ein halbes Jahr später hatte sie bereits ihre erste große Ausstellung in der Galerie Gurlitt, kuratiert von Max Pechstein.
Unter den Expressionisten war sie eine faszinierende Ausnahmeerscheinung: eine junge, begabte, selbstbewusste Frau, noch dazu aus Afrika. Geboren 1894 als Tochter deutsch-jüdischer Einwanderer in der Republik Transvaal, im Norden des heutigen Südafrika, war ihre Kindheit vom Pendeln zwischen den Kontinenten geprägt. Mehrmals zogen die Eltern zwischen Berlin und Südafrika hin und her.
Früh ließ sie afrikanische Themen in ihre Kunst einfließen, etwa in der Druckgrafikmappe „Dumela Morena“, mit der sie auf Anregung Pechsteins versuchte, ein breiteres Publikum zu erreichen. Einige Blätter daraus sind jetzt in Berlin zu sehen. Sie traf damit denNerv der kunstsinnigen Elite der frühen Weimarer Republik, die sich für alles Exotische begeisterte, und auch ihrer expressionistischen Malerkollegen, egal ob sie wie Kirchner vom Reisen nur träumten oder sich wie Pechstein tatsächlich in die Südsee aufgemacht hatten.
Im Jahr 1920 kehrten die Sterns endgültig nach Südafrika zurück, nach den Burenkriegen nun britische Kolonie. Ihr Lebensmittelpunkt wurde Kapstadt, dennoch verbrachte die Malerin reichlich Zeit in Europa, wo sie mit zahlreichen Ausstellungen Erfolge feierte. In den erzkonservativen südafrikanischen Kunstkreisen traf ihre Darstellung nicht weißer Menschen dagegen auf Unverständnis und Ablehnung. Schwarze Menschen malen, jenseits der Stereotype, daraus konnten in der rassistischen Weltsicht vieler weißer Südafrikaner nur „hässliche“ und „würdelose“ Werke entstehen. So begeistert Sterns Kunst damals in Europa aufgenommen wurde, auf so viel Ablehnung stieß sie in ihrer alten und neuen Heimat am Kap. Blickt man auf das Gemälde „Stonebreaker“ aus dem Jahr ihrer Rückkehr, erscheint das damalige Urteil besonders verfehlt. In einer reduzierten, modernen Bildsprache mit prägnanten Konturlinien zeigt es einen jungen schwarzen Mann beim Steineschlagen. Eine harte Arbeit, aber die ganze Szene wirkt traumverloren. Das schöne Gesicht des Mannes erinnert an eine afrikanische Maske, er ist in sich gekehrt, die Augen sind geschlossen, der Hammer in seiner Hand könnte ebenso ein Zepter sein. Er ist Arbeiter und doch König. Aus heutiger Sicht mag dieses Gemälde als zu schön, angesichts der kolonialen Realitäten zu idealisierend erscheinen, doch vor 100 Jahre wagte Stern sich mit einem solchen Sujet in unerhört neue Sphären.
Die Berliner Ausstellung konzentriert sich vor allem auf die Porträts aus Sterns mittlerer Schaffensperiode, einer Zeit, in der sie ihre Verbindungen nach Deutschland verlor. Das Jahr 1933 war für die Jüdin ein tiefer Einschnitt – sie hörte auf, deutsch zu sprechen, und beendete Freundschaften. Das Land, in dem sie zur Malerin und gerade noch bejubelt wurde, verfemte ihre Werke nun als „entartet“. Später sollte sie nur noch ein einziges Mal nach Deutschland zurückkehren, zu einer Galerieausstellung in den 1950er-Jahren. Umso intensiver wendete sie sich nun dem Kontinent zu, in dem sie lebte. Nur begleitet von einem Chauffeur entdeckte sie den heutigen Kongo und Ruanda für sich. Sie porträtierte Mitglieder des ruandischen Königshauses, darunter Rosalie Gicanda, die Ehefrau des Monarchen. Die Frau mit dem schmalen Gesicht, der hohen Stirn und opulent aufgetürmtem Haar ist eine der wenigen nicht weißen Modelle Sterns, deren Namen man heute noch kennt. Stern hielt, ohne es zu wissen, mit ihr auch das Ende einer Ära fest, denn knapp zwei Jahrzehnte nachdem sie Gicanda gezeichnet und gemalt hatte, endete das jahrhundertalte ruandische Königshaus. Die einstige Königin fand später ein grausames Ende, sie fiel 1994 dem Genozid der Hutu an den Tutsi zum Opfer.
Weitere Reisen führten Irma Stern 1939 und 1945 nach Sansibar. Die Gemälde, die sie auf der ostafrikanischen Insel schuf, zählen inzwischen zu ihren berühmtesten. Stern war fasziniert von der dortigen arabisch-muslimischen Kultur, schwärmte von der Architektur der Moscheen, trank Tee mit der Sultanin und streifte durch die Basare. „Arab Priest“ von 1945 zeigt einen melancholisch dreinblickenden Imam mit gekreuzten Beinen. Seine weiße Robe hebt sich kaum von der hellen Wand hinter ihm ab, was den Blick umso mehr auf den Bart und die schräg stehenden Augen lenkt. Das Werk gehört heute den Museen in Katar, 2011 wurde es bei Bonhams in London für gut 3 Millionen Pfund versteigert, ein Rekordergebnis. Als nationales Kulturgut muss es immer mal wieder in Südafrika gezeigt werden. Für das Brücke-Museum war eine Leihgabe zu kostspielig, doch der Katalog dokumentiert das außergewöhnliche Bild.