Die Neue Sammlung

Amphitheater des Alltags

Anlässlich ihres 100. Geburtstags inszeniert Die Neue Sammlung eine glanzvolle Präsentation mit hundert ausgewählten Objekten aus dem Bestand

Von Sabine Spindler
16.10.2025
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 247

Verrückt nach Design waren in den Nineties alle – und doch spaltete eine Zitronenpresse auf drei hohen insektoiden Beinen die Gemeinde in eine Pro-Fraktion der neuen augenzwinkernden Entwürfe und die Skeptiker-Liga aufseiten der trockenen Strenge à la Ulmer Schule. Philippe Starcks „Juicy Salif“ aus dem Hause Alessi war vor 30 Jahren nicht unumstritten: Für das eiserne Prinzip „form follows function“ auch nach Jahren der Memphis-Buntheit viel zu skurril, liebten dennoch Millionen von Käufern das bizarre Teil.

Die Neue Sammlung, vor 100 Jahren als erstes deutsches Museum für moderne angewandte Kunst gegründet, zeigt in ihrer Jubiläumsausstellung die silbrige Saftpresse trotzdem oder gerade deswegen. Denn Design ist nicht nur von ästhetischen Kriterien bestimmt, sondern hängt stark von politischen und gesellschaftlichen Faktoren ab. In der wie ein Amphitheater aufgebauten Schau reiht sich Starcks Entwurf ein zwischen andere berühmte Objekte – wie Ladislav Sutnars Spielzeugwalze von 1929, die ganz im Sinne der Moderne nur aus geometrischen Formen besteht, Fulvio Bianconis Fazzoletti-Glasschalen (ca. 1951) oder Konstantin Grcics „Chair One“ von 2002, der mit dem kegelförmigen Betonfuß unter einem filigranen Sitz einen innovativen Mix aus Material und Form hervorbrachte und so die Ästhetik des Stuhls erneuerte.

Radio-Plattenspieler-Kombination von Hans Gugelot und Dieter Rams aus dem Jahr 1956
Der Erzählbogen der Jubiläumsschau beginnt mit einem Hocker streift Objekte wie die Radio-Plattenspieler-Kombination von Hans Gugelot und Dieter Rams aus dem Jahr 1956. © Alexander Laurenzo/Die Neue Sammlung Die Neue Sammlung – The Design Museum

Zu dieser Zeit nannte sich die Institution, die 2002 endlich ein eigenes Haus in der Pinakothek der Moderne gefunden hatte, längst „The Design Museum“. Und das ist hier ein weites Feld: Für Fotodesign steht ein Motiv von Hilla und Bernd Becher, für Grafikdesign ein provokantes Benetton-Plakat von Oliviero Toscani und Salvatore Gregorietti. Möbeldesign reicht vom simplen Inuithocker aus dem Jahr 1900 bis zu einem im 3D-Verfahren gedruckten Kunststoffstuhl.

Bewusst hat sich das kuratorische Team nicht für ein Best-of entschieden. „Die Idee ist, dass für uns keine Hierarchien und keine Top-Ten-Listen existieren“, sagt Angelika Noller, Direktorin des mit mehr als 120.000 Objekten größten Designmuseums der Welt. Zum Jubiläum bietet vielmehr die Erwerbsgeschichte den roten Faden.

Wer sich beispielsweise wundert, dass der legendäre Leiterstuhl von Charles Rennie Mackintosh – 1902 für den Teesalon Willow in Glasgow gefertigt – erst 1971 erworben wurde, muss ins Gründungsjahr 1925 zurückschauen. Den Jugendstil hatte das Kunstgewerbe damals gerade hinter sich gelassen. Und während das Bayerische Nationalmuseum, dem die Neue Sammlung damals zur Seite gestellt wurde, retrospektiv das Kunstgewerbe von der Gotik bis ins späte 19. Jahrhundert erwarb, richtete der neu gegründete Zweig seinen Blick erst mal nur auf die unmittelbare Gegenwart. Was in den 1920er-Jahren im Bauhaus oder in den Glaswerkstätten Bayerns an progressiven Formen und Ideen entstand, rückte ins Interesse. Es war daher in seiner Anfangsphase kein Museum in Richtung jüngere Vergangenheit, sondern eine Sammlung des gegenwärtig Entstehenden – mit einem Fokus, der lange auf dem Handwerklichen lag. Wie nah man an den Strömungen der Zeit tatsächlich war, zeigt in der aktuellen Schau unter anderem Gunta Stölzls Wandteppich von 1926, im selben Jahr im Bauhaus erworben.

Ein Hocker der Inuit
Ein Hocker der Inuit (ca. 1900). © Alexander Laurenzo/Die Neue Sammlung Die Neue Sammlung – The Design Museum

Auf der Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes in Paris kaufte Gründungsdirektor Günther Freiherr von Pechmann 1925 Stücke aus Skandinavien und England. Auch der Stahlrohrsessel MR 30 von Mies van der Rohe kam bereits 1930, drei Jahre nach Produktionsbeginn, ins Haus. Unter den Nazis wurde die Ankaufspolitik biederer bis ideologisch. Zwar erwarb das Museum 1936 eine neusachliche Kanne aus der Zinngießerei Wiedemann nach einem Entwurf Wolfgang von Wersins – doch der talentierte Produktgestalter hatte als zweiter Direktor der Neuen Sammlung schon 1933 sein Entlassungsschreiben bekommen. Von Wersin war durch die Ausstellung „Der billige Gegenstand“ ins Visier der Nazis geraten. Das Thema waren zeitgemäße erschwingliche Objekte aus den Kaufhäusern, die oft in jüdischem Besitz waren. NSDAP-Abgeordnete diskreditierten die Idee als Absatzförderung von Ramschware.

Zwischen 1940 und 1947 klafft eine Lücke – das Museum war in dieser Zeit geschlossen. In den Fünfzigerjahren begann eine Neuausrichtung der Neuen Sammlung, und in den Achtzigern wurde dann sehr deutlich, wohin man wollte: Direktor Hans Wichmann forderte einen neuen Museumstyp, der mit den Dingen des Alltags die Spezifik des Technik- und Industriezeitalters dokumentiert.

Wichmanns Nachfolger Florian Hufnagl hat diese Forderung dann sehr praktisch umgesetzt und wurde einmal bei einem seiner Flohmarktstreifzüge mit einem Außenbordmotor über der Schulter gesehen. Sammelwürdig war da schon längst die von Hans Erich Slany 1968 entwickelte Schlagbohrmaschine der Firma Bosch. Kettensägen, Fernseher, prähistorische Mobiltelefone oder der iMac G3 – die Herausforderungen der Technik an die Industriedesigner waren groß. „Uns interessiert daran nur das Design. Das Formgebende plus Technik“, sagt Direktorin Noller. Beim berühmten „Schneewittchensarg“ von Hans Gugelot und Dieter Rams, einer Radio-Plattenspieler-Kombination von 1956, ist es die Innovation eines Plexiglasdeckels, der die Technik nicht mehr in schönen Kästen vergräbt, sondern sichtbar macht. Heute wiederum kreisen die großen Fragen um KI und Augmented Reality, um durch Algorithmen entstandenes Design oder humanoide Roboter. Die Zukunft wird zeigen, welche Objekte dieser rasenden technologischen Revolution es schließlich in die Sammlung schaffen.

Service

AUSSTELLUNG

„100 Jahre – 100 Objekte“,

Pinakothek der Moderne,

bis 30. Mai 2027

Zur Startseite