Vija Celmins

In der Stille liegt die Kraft

Seit mehr als einem halben Jahrhundert zeichnet und malt Vija Celmins ihre Bilder von Nachthimmeln oder Ozeanen in immer neuen Variationen. Nun sind diese eigensinnigen Werke in der Fondation Beyeler zu erleben

Von Tim Ackermann
24.06.2025
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 242

Die Anekdote vom Bibliothekarenschreck Celmins sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere ihre Bilder von Militärflugzeugen aus dem Jahr 1966 auch biografisch verstanden werden können. Denn die Künstlerin, die 1938 in Riga geboren wurde, floh im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern vor der anrückenden russischen Armee nach Deutschland. Sie erlebte in Berlin und Leipzig die Bombenangriffe der Alliierten und in Heidelberg das Ende des Krieges und wuchs anschließend für weitere drei Jahre im schwäbischen Esslingen auf, bevor die Familie schließlich 1948 in die USA emigrierte und eine neue Heimat in Indianapolis fand. Als „traumatisch“ hat Celmins ihre Kriegs- und Fluchterfahrungen beschrieben. Ein biografisches Schicksal, das sie mit vielen Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts teilt. Unter anderem auch aus diesem Grund nennt Kuratorin Theodora Vischer sie eine „Künstlerin für diese Zeit“. Auch wenn oder gerade weil Celmins ihre Erlebnisse nie offen zum Thema ihrer Werke gemacht hat, was sie von heutigen identitätspolitischen Strömungen der Kunst unterscheidet.

1965 beginnt sie, fotorealistisch nach Bildern zu arbeiten, die sie aus Zeit Blick auf ihr Archiv an Motivvorlagen. © Vija Celmins/Courtesy Matthew Marks Gallery, Aaron Wax

Die fotorealistische Phase ist wichtig – auch um den künstlerischen Bruch zu verstehen, der danach kommt: Ab 1968 beginnt die Künstlerin, alles Narrative aus ihren Werken zu löschen. In diesem Jahr macht sie erste Bleistiftzeichnungen des Pazifischen Ozeans, die Fotovorlagen dafür hat sie bei ihren Strandspaziergängen in Venice Beach selbst aufgenommen. Als Besonderheit weisen diese Bilder erstmalig keine Horizontlinie mehr auf, die Meeresoberfläche füllt die volle Bildfläche aus. Ab diesem Moment begibt sich Celmins auf eine Suche nach dem, was sie als „unmögliche Bilder“ bezeichnet: eine Form, die gleichzeitig „illusionistisch und sehr flach ist“. Die Meeresansichten sind realistisch und abstrakt zugleich. Das Motiv ist klar erkennbar, doch das Auge ist vor allem damit beschäftigt, konstant über die Bildoberfläche zu wandern und die verschiedenen Details zu studieren. Einzelne Wellenkämme können plötzlich so bedeutsam und monumental wie Gebirgsketten wirken. Je nach individuellem Interesse des Betrachtenden verändert sich der Eindruck des Werks. Die Idee einer allgemeingültigen großen Erzählung des Bildes hat sich aufgelöst. Celmins setzt damit ein künstlerisches Vorhaben um, das sie bereits 1964 in einem Notizbuch als eigenen Anspruch formuliert hatte: „Keine Komposition … Keine Gesten … Kein künstliches Kolorit … Keine Zeichen von offensichtlicher Bemühung … Kein Ego … KEINE GROSSE MALEREI.“

Den Meeresansichten folgen bald Zeichnungen der Mondoberfläche – nach Aufnahmen der NASA – und von Bodenstrukturen, die sie in der Mojave-Wüste findet. 1973 lenkt sie dann erstmals, dank Satellitenbildern als Vorlage, den Blick auf ferne Galaxien. So baut sie ein Motivrepertoire auf, mit dem sie sich über die kommenden fünf Dekaden hinaus beschäftigt, stets bestrebt, ihre egofreie Kunst weiter zu perfektionieren. Was sich bei oberflächlicher Betrachtung als reine Wiederholung abtun ließe, entpuppt sich bei längerem Hinsehen als beständig faszinierende Variation. Ein Nachthimmel kann unterschiedlich wirken, je nachdem ob er in den Siebzigerjahren präzise in Grafit markiert, in den Achtzigern schichtweise in Ölfarbe aufgetragen oder in den Neunzigern in weicherer Kohle ausgeführt wurde. Celmins schickt uns in die Schule des bewussten Sehens, ein weiterer Grund für Theodora Vischer, sie als relevante Künstlerin für unsere Gegenwart zu zeigen. „Ihre Bilder funktionieren nicht mit schnellem Schauen. Es braucht Geduld, die wir nicht mehr so gewöhnt sind, in unserem Umgang mit Medien“, erklärt die Kuratorin. „Gleichzeitig lauert in unserem Alltag ein Überdruss an der ständigen Bedienung mit neuen Bildern. Und da setzt Celmins mit ihrem kontinuierlichen Werk etwas entgegen.“ Fünfzehn bis dreißig Sekunden konzentriertes Ansehen reichten schon aus, um die Anziehungskraft ihrer Arbeiten zu erleben.

Motive, die sich ohne Anfang oder Ende über die Bildfläche erstrecken, beschäftigen Celmins seit mehr als fünf Dekaden. Zum Beispiel das Gemälde „Astrographic Blue“ (2019–2024). © Vija Celmins/Courtesy Matthew Marks Gallery, Aaron Wax

Vielleicht kommt das Publikum in Basel auch zu dem Schluss, den Roberta Smith, Chef-Kunstkritikerin der New York Times, 1992 zog, als sie Celmins’ Werk als „Mittelpunkt zwischen Vermeer und Jackson Pollock“ lobte. Die Künstlerin erlebte in jenem Jahr ihre erste museale Retrospektive, unter anderem im New Yorker Whitney Museum, wohingegen sie in den vorangegangen drei Dekaden nur vereinzelt Soloschauen in Galerien und kleineren Institutionen hatte. Vischer führt diesen Mangel an Sichtbarkeit, der Celmins auch während ihrer späteren Karriere phasenweise widerfuhr, einerseits auf ihre langsame Arbeitsweise zurück und andererseits auf ihre künstlerische Sonderposition: „Eigentlich hat sie in keine Strömung richtig hineingepasst und ihren eigenen Weg genommen.“

Dass sie vieles künstlerisch für sich abgelehnt habe, hat auch Celmins selbst unverblümt zugegeben. Tatsächlich ist sie als junge Künstlerin weder dem Pfad des Fotorealismus zu Ende gefolgt, wie es ihr Malerfreund Chuck Close tat, noch dem der neuen Historienmalerei, den Gerhard Richter in Deutschland beschritt. Sie wollte keine Pop-Künstlerin werden, und ebenso hielt sie Distanz zum optischen und geometrischen Minimalismus der kalifornischen Bewegung Light and Space, in der ihre Freunde Doug Wheeler und James Turrell aktiv waren. Celmins ist eigensinnig geblieben. Und vermag – aller Konstanz des Werks zum Trotz – durchaus zu überraschen: In jüngster Zeit etwa kehrt mit den 2024 fertiggestellten Arbeiten „Snowfall (Blue)“ oder „Astrographic Blue“ dezent die Farbe zurück. Und bei „Plate“ von 2023 dürfen wir uns urplötzlich ganz in der mikroskopischen Nahansicht von Rissstrukturen in der Glasur eines Tellers verlieren. Stets außergewöhnlich wirken auch Celmins’ dreidimensionale Werke, die sie nach eigener Aussage „zur Erholung“ anfertigt: In den spannendsten dieser skulpturalen Arbeiten kombiniert sie gefundene Steine mit von ihr handbemalten Bronzekopien, die den Fundstücken zum Verwechseln ähnlich sehen. Welcher Stein das Original ist und welcher die Nachschöpfung vermag das Auge allein nicht mehr zu bestimmen. Wie ihre Bilder sind auch ihre Skulpturen ein Appell gegen das vorschnelle Urteil und für mehr Demut in Bezug auf die eigene Erkenntnisfähigkeit. Celmins erteilt uns eine Lektion, die wir heute alle gut gebrauchen können. 

Service

AUSSTELLUNG

„Vija Celmins“,

Fondation Beyeler,

bis 21. September 2025

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