Vija Celmins

In der Stille liegt die Kraft

Seit mehr als einem halben Jahrhundert zeichnet und malt Vija Celmins ihre Bilder von Nachthimmeln oder Ozeanen in immer neuen Variationen. Nun sind diese eigensinnigen Werke in der Fondation Beyeler zu erleben

Von Tim Ackermann
24.06.2025
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 242

Wie tief können wir in ein gemaltes Bild eintauchen? Im Fall eines „Night Sky“ von Vija Celmins lautet die Antwort: Lichtjahre tief. Wie eine Raumsonde dringt unser Blick in den verwischten Nebel künstlich funkelnder Sterne. Und fliegt sogleich hindurch, denn in dem Lichtschleier hält das Auge nichts fest, dahinter liegt nur Schwärze. Wir schauen direkt ins Universum – zumindest fühlt es sich so an, die Illusion eines Nachthimmels ist perfekt. Die Täuschung gelingt durch strenge Vorlagentreue: Beim Abmalen von Aufnahmen eines Weltraumteleskops hat die Künstlerin weder die Komposition verändert noch etwas dazuerfunden. Jeder Stern erscheint exakt dort, wo er auch am Firmament stehen würde. Farbschicht über Farbschicht hat Vija Celmins ihren illusorischen Raum unendlich weit geöffnet. Und nur wenn wir nahe genug an ihr Werk herantreten, erkennen wir den Augentrug, nehmen die Leinwand als undurchdringliche Fläche wahr, die unseren Sondenblick stoppt und die von einem zufälligen Muster abstrakter Punkte überzogen ist.

Ein gemalter Sternenhimmel ist ein Bild, das alles enthält – und zugleich nichts. Als Abbild des Kosmos symbolisiert es alle denkbaren Welten und Möglichkeiten. Als nüchterne Ansammlung leuchtender Pinselpunkte auf einer Leinwand besitzt es jedoch kein Geheimnis, liefert keine Erzählungen oder Antworten. In diesem Spannungsverhältnis von Neugier und Wortlosigkeit bewegt sich das Œuvre von Vija Celmins mit Serien von Ozeanen, Wüsten oder Schneetreiben. In sechs Karrierejahrzenten hat sie eine ganze Welt geschaffen, ohne das Gefühl, dieser eine Botschaft mitgeben zu müssen. „Malerei handelt von den Dingen, die sich nicht sagen lassen“, erklärte Celmins 2023 bei der Eröffnung ihrer Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, als ihre Bilder mit denen Gerhard Richters zusammengebracht wurden. Der schöne Satz kommt einem wieder in den Sinn, da jetzt in der Fondation Beyeler eine große Einzelschau der heute 86-jährigen US-Amerikanerin lettischer Herkunft ansteht.

Vija Celmins
Keine großen Malergesten: Vija Celmins in ihrem Atelier. Das Foto machte die Künstlerin Laurie Lambrecht in diesem Frühjahr. © Laurie Lambrech

Fast eineinhalb Dekaden ist es her, dass Celmins im deutschsprachigen Raum derart umfassend zu sehen war, wie sie nun in Riehen bei Basel präsentiert wird. Die Seltenheit ihrer Einzelausstellungen dürfte ein Grund sein, weshalb sich jeder ihrer Auftritte wie eine Wiederentdeckung anfühlt. Auch Theodora Vischer, Chief Curator der Fondation Beyeler, hat ihre Inszenierung so angelegt, dass sie Neulingen in Celmins’ Kosmos den Einstieg erleichtert: Die Werke werden chronologisch gehängt, es beginnt mit den Alltagsobjektmalereien aus den frühen Sechzigerjahren und endet mit verschneiten Winterhimmeln von 2022 bis 2024. „Durch den chronologischen Aufbau sieht man, wie sich ihr Schaffen über die Zeit verändert, obwohl die Motive oft die gleichen bleiben“, erläutert Vischer.

Celmins’ Karriere beginnt mit einem Stipendium, das sie im Herbst 1962 von der University of California in Los Angeles (UCLA) erhält. Die Mittzwanzigerin hat bereits in ihrer Heimatstadt Indianapolis ein Kunststudium abgeschlossen und an der Yale Summer School einige junge Kollegen wie Brice Marden und Chuck Close getroffen, die wie sie damals noch vom Abstrakten Expressionismus beeinflusst sind. Nun schreibt sie sich für ihren Postgraduiertenkurs ein. Die eigentlich eher periphere Kunststadt L. A. ist im Sommer zum Schauplatz eines epochemachenden Ereignisses geworden, als der noch unbekannte Andy Warhol aus New York in der Ferus Gallery zum ersten Mal seine Siebdruckbilder von Campbell’s-Suppendosen gezeigt hat. Pop-Art als künstlerische Verklärung simpler Konsumobjekte erobert ab jetzt die amerikanische Westküste.

1964 malt auch Celmins eine Bilderserie mit Alltagsdingen, die sich in ihrem Atelier in Venice Beach befinden: Lampen, Heizlüfter, Teller, aufgerissene Briefumschläge. Diese Werke sind später manchmal in Kontext der Pop-Art gesehen worden, die die Künstlerin damals auch wahrnahm. Nur hat sie sich selbst nie zu dieser Strömung gezählt. Der kommerzielle Aspekt der Pop-Kunst habe sie nicht interessiert, sagt sie. Mit einer Genauigkeit gemalt, die schon auf ihre fotorealistischen Arbeiten des Folgejahres hinweist, wirken Motive wie „Lamp“ oder „Heater“ tatsächlich wenig glamourös. Die Hintergründe sind braun und grau, das restliche Kolorit ist schlapp, die Gegenstände wirken eher verbraucht als verehrt. Gelegentlich hat die Atmosphäre eines Bildes etwas Unheilvolles, wie im Falle des Heizlüfters, der im düsteren Orange passiv-aggressiv vor sich hin glüht.

1964 malt Celmins einige Alltagsdinge aus ihrem Atelier ab, so wie „Heater“
1964 malt Celmins einige Alltagsdinge aus ihrem Atelier ab, so wie „Heater“. © Vija Celmins/Courtesy Matthew Marks Gallery, Robert Gerhardt & Denis Y. Suspitsyn/Digital image, Whitney Museum of American Art/Scala, Florence

Das Rätselhafte, das seit Celmins’ Frühwerk vorhanden ist und von ihr nie aufgelöst wurde, führt sie in ihren fotorealistischen Gemälden des Jahres 1965 fort: Diese Grisaille-Ölbilder zeigen eine merkwürdige Auswahl an Motiven – ein Rhinozeros, ein Cover des Time Magazine zu den Unruhen in Los Angeles, ein brennendes Flugzeug. Als man die Künstlerin vor zwei Jahren in Hamburg auf die eklektische Mischung ihrer Vorlagen ansprach, bündelte sie ihre Haltung in einem knappen Satz: „Das Motiv ist nicht die Kunst!“ Um dann doch erläuternd hinzuzufügen: „Motive kommen und gehen. Manchmal sehe ich etwas, das mich anspricht, und dann verwende ich es. Damals in Los Angeles habe ich häufig Bücher aus der Bibliothek ausgeliehen, die Bilder, die mich interessierten, ausgeschnitten und die Bücher anschließend wieder zurückgebracht.“

Die Anekdote vom Bibliothekarenschreck Celmins sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere ihre Bilder von Militärflugzeugen aus dem Jahr 1966 auch biografisch verstanden werden können. Denn die Künstlerin, die 1938 in Riga geboren wurde, floh im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern vor der anrückenden russischen Armee nach Deutschland. Sie erlebte in Berlin und Leipzig die Bombenangriffe der Alliierten und in Heidelberg das Ende des Krieges und wuchs anschließend für weitere drei Jahre im schwäbischen Esslingen auf, bevor die Familie schließlich 1948 in die USA emigrierte und eine neue Heimat in Indianapolis fand. Als „traumatisch“ hat Celmins ihre Kriegs- und Fluchterfahrungen beschrieben. Ein biografisches Schicksal, das sie mit vielen Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts teilt. Unter anderem auch aus diesem Grund nennt Kuratorin Theodora Vischer sie eine „Künstlerin für diese Zeit“. Auch wenn oder gerade weil Celmins ihre Erlebnisse nie offen zum Thema ihrer Werke gemacht hat, was sie von heutigen identitätspolitischen Strömungen der Kunst unterscheidet.

1965 beginnt sie, fotorealistisch nach Bildern zu arbeiten, die sie aus Zeit Blick auf ihr Archiv an Motivvorlagen. © Vija Celmins/Courtesy Matthew Marks Gallery, Aaron Wax

Die fotorealistische Phase ist wichtig – auch um den künstlerischen Bruch zu verstehen, der danach kommt: Ab 1968 beginnt die Künstlerin, alles Narrative aus ihren Werken zu löschen. In diesem Jahr macht sie erste Bleistiftzeichnungen des Pazifischen Ozeans, die Fotovorlagen dafür hat sie bei ihren Strandspaziergängen in Venice Beach selbst aufgenommen. Als Besonderheit weisen diese Bilder erstmalig keine Horizontlinie mehr auf, die Meeresoberfläche füllt die volle Bildfläche aus. Ab diesem Moment begibt sich Celmins auf eine Suche nach dem, was sie als „unmögliche Bilder“ bezeichnet: eine Form, die gleichzeitig „illusionistisch und sehr flach ist“. Die Meeresansichten sind realistisch und abstrakt zugleich. Das Motiv ist klar erkennbar, doch das Auge ist vor allem damit beschäftigt, konstant über die Bildoberfläche zu wandern und die verschiedenen Details zu studieren. Einzelne Wellenkämme können plötzlich so bedeutsam und monumental wie Gebirgsketten wirken. Je nach individuellem Interesse des Betrachtenden verändert sich der Eindruck des Werks. Die Idee einer allgemeingültigen großen Erzählung des Bildes hat sich aufgelöst. Celmins setzt damit ein künstlerisches Vorhaben um, das sie bereits 1964 in einem Notizbuch als eigenen Anspruch formuliert hatte: „Keine Komposition … Keine Gesten … Kein künstliches Kolorit … Keine Zeichen von offensichtlicher Bemühung … Kein Ego … KEINE GROSSE MALEREI.“

Den Meeresansichten folgen bald Zeichnungen der Mondoberfläche – nach Aufnahmen der NASA – und von Bodenstrukturen, die sie in der Mojave-Wüste findet. 1973 lenkt sie dann erstmals, dank Satellitenbildern als Vorlage, den Blick auf ferne Galaxien. So baut sie ein Motivrepertoire auf, mit dem sie sich über die kommenden fünf Dekaden hinaus beschäftigt, stets bestrebt, ihre egofreie Kunst weiter zu perfektionieren. Was sich bei oberflächlicher Betrachtung als reine Wiederholung abtun ließe, entpuppt sich bei längerem Hinsehen als beständig faszinierende Variation. Ein Nachthimmel kann unterschiedlich wirken, je nachdem ob er in den Siebzigerjahren präzise in Grafit markiert, in den Achtzigern schichtweise in Ölfarbe aufgetragen oder in den Neunzigern in weicherer Kohle ausgeführt wurde. Celmins schickt uns in die Schule des bewussten Sehens, ein weiterer Grund für Theodora Vischer, sie als relevante Künstlerin für unsere Gegenwart zu zeigen. „Ihre Bilder funktionieren nicht mit schnellem Schauen. Es braucht Geduld, die wir nicht mehr so gewöhnt sind, in unserem Umgang mit Medien“, erklärt die Kuratorin. „Gleichzeitig lauert in unserem Alltag ein Überdruss an der ständigen Bedienung mit neuen Bildern. Und da setzt Celmins mit ihrem kontinuierlichen Werk etwas entgegen.“ Fünfzehn bis dreißig Sekunden konzentriertes Ansehen reichten schon aus, um die Anziehungskraft ihrer Arbeiten zu erleben.

Motive, die sich ohne Anfang oder Ende über die Bildfläche erstrecken, beschäftigen Celmins seit mehr als fünf Dekaden. Zum Beispiel das Gemälde „Astrographic Blue“ (2019–2024). © Vija Celmins/Courtesy Matthew Marks Gallery, Aaron Wax

Vielleicht kommt das Publikum in Basel auch zu dem Schluss, den Roberta Smith, Chef-Kunstkritikerin der New York Times, 1992 zog, als sie Celmins’ Werk als „Mittelpunkt zwischen Vermeer und Jackson Pollock“ lobte. Die Künstlerin erlebte in jenem Jahr ihre erste museale Retrospektive, unter anderem im New Yorker Whitney Museum, wohingegen sie in den vorangegangen drei Dekaden nur vereinzelt Soloschauen in Galerien und kleineren Institutionen hatte. Vischer führt diesen Mangel an Sichtbarkeit, der Celmins auch während ihrer späteren Karriere phasenweise widerfuhr, einerseits auf ihre langsame Arbeitsweise zurück und andererseits auf ihre künstlerische Sonderposition: „Eigentlich hat sie in keine Strömung richtig hineingepasst und ihren eigenen Weg genommen.“

Dass sie vieles künstlerisch für sich abgelehnt habe, hat auch Celmins selbst unverblümt zugegeben. Tatsächlich ist sie als junge Künstlerin weder dem Pfad des Fotorealismus zu Ende gefolgt, wie es ihr Malerfreund Chuck Close tat, noch dem der neuen Historienmalerei, den Gerhard Richter in Deutschland beschritt. Sie wollte keine Pop-Künstlerin werden, und ebenso hielt sie Distanz zum optischen und geometrischen Minimalismus der kalifornischen Bewegung Light and Space, in der ihre Freunde Doug Wheeler und James Turrell aktiv waren. Celmins ist eigensinnig geblieben. Und vermag – aller Konstanz des Werks zum Trotz – durchaus zu überraschen: In jüngster Zeit etwa kehrt mit den 2024 fertiggestellten Arbeiten „Snowfall (Blue)“ oder „Astrographic Blue“ dezent die Farbe zurück. Und bei „Plate“ von 2023 dürfen wir uns urplötzlich ganz in der mikroskopischen Nahansicht von Rissstrukturen in der Glasur eines Tellers verlieren. Stets außergewöhnlich wirken auch Celmins’ dreidimensionale Werke, die sie nach eigener Aussage „zur Erholung“ anfertigt: In den spannendsten dieser skulpturalen Arbeiten kombiniert sie gefundene Steine mit von ihr handbemalten Bronzekopien, die den Fundstücken zum Verwechseln ähnlich sehen. Welcher Stein das Original ist und welcher die Nachschöpfung vermag das Auge allein nicht mehr zu bestimmen. Wie ihre Bilder sind auch ihre Skulpturen ein Appell gegen das vorschnelle Urteil und für mehr Demut in Bezug auf die eigene Erkenntnisfähigkeit. Celmins erteilt uns eine Lektion, die wir heute alle gut gebrauchen können. 

Service

AUSSTELLUNG

„Vija Celmins“,

Fondation Beyeler,

bis 21. September 2025

Zur Startseite