Als Mike Kelley kam, hatten Pop und Minimal Art keine Chance mehr: Zwölf Jahre nach seinem frühen Tod würdigt eine große Retrospektive in Düsseldorf den wohl vielseitigsten Künstler seiner Generation
Von
19.03.2024
/
Erschienen in
Weltkunst Nr. 224
Alle Ordnung fällt in sich zusammen, wenn der Poltergeist loslegt. Er tritt als unsichtbarer Spuk auf, der die Dinge durch die Gegend fliegen lässt und mit lauten Geräuschen auf sich aufmerksam macht. Ist seine Wut erloschen, verschwindet er und lässt ein heilloses Durcheinander zurück. Der Poltergeist ist damit in einigen Aspekten dem modernen Performancekünstler ähnlich. Mike Kelley wusste das wohl, als er sich 1978 in Vorbereitung für eine altarartige Bild-Text-Arbeit, die im Titel auf den Spuk hinweist, fotografieren ließ. In der Serie von 15 Aufnahmen erscheint der junge Künstler als Besessener, teilweise mit ins Weiße verdrehten Augen und zum Himmel gereckten Armen. Ektoplasma schwebt um seinen Kopf oder quillt aus seinen Nasenlöchern. Die mysteriöse Substanz, die in Fotografien von Séancen des 19. Jahrhunderts die Präsenz von Geistern belegen sollte, ist in Kelleys Fall offensichtlich aus Watte nachgebildet. Im Textteil des Werks beschreibt der Künstler den Poltergeist als „kleines affenähnliches Phanto“, von sexueller Energie durchströmt, und setzt ihn mit dem „Geist der Pubertät“ gleich. Gut möglich, dass die Ektoplasma-Watte noch auf ganz andere Körperflüssigkeiten verweist.
Mit seiner Absonderlichkeit und interpretativen Offenheit ist Mike Kelleys Œuvre auch heute, mehr als eine Dekade nach seinem mutmaßlichen Selbstmord im Jahr 2012, nicht bis in die letzten Nuancen ausgedeutet. Diese Unbestimmbarkeit hat seinen Erfolg interessanterweise nicht verhindert, genauso wenig wie seine Faszination für das vermeintlich Hässliche, das offensichtlich Ausgegrenzte, das Verdrängte oder das Sperrige aus den schummerigen Nerd-Zonen der amerikanischen Popkultur. Es wäre noch zu untersuchen, warum ausgerechnet die glamourverliebte Kunstwelt mit ihrer superreichen Sammlerschaft so enthusiastisch auf den Sonderling Kelley reagiert hat.
Der Auftakt seiner aktuellen Ausstellung „Ghost and Spirit“ fand jedenfalls in der Bourse de Commerce in Paris statt, im Privatmuseum des Multimilliardärs François Pinault, der neben dem Auktionshaus Christie’s unter anderem auch mehrere bedeutende Installationen von Kelley besitzt. Wenn die Schau nun zur nächsten Station ins Düsseldorfer Museum K21 und später auch noch nach London und Stockholm weiterzieht, dann wandert auch ein wenig die Furcht vor einer visuellen Überforderung mit: Es kommt nicht selten vor, dass man eine Ausstellung des kalifornischen Künstlers mit der Frage im Kopf verlässt, was man da eigentlich gerade alles gesehen hat. Und es spricht für die Qualität von Kelleys Werken, dass diese Frage keine Antwort finden muss.
Die kontrollierte Konfusion bildet den Kern von Kelleys Welt. In seinen Arbeiten findet sich eine verwirrende Vielzahl von Referenzen, teils populärer, teils privater Natur. Und nicht alle Erläuterungen erweisen sich als aufschlussreich – gerade in Hinblick auf seine Biografie: Der 1954 geborene Künstler hat beispielsweise in seinen Werken thematisiert, dass er aus der Arbeiterklasse stammt. Katholisch erzogen, wuchs er als Sohn eines Schulhausmeisters und einer Köchin in einem Vorort von Detroit auf. Doch wie er zu diesen biografischen Details steht, bleibt in seiner Kunst letztlich nebulös. So besteht die Gefahr der Überinterpretation. Ist Kelleys frühe Skulptur „Catholic Birdhouse“ (1978), die im Jahr seines Studienabschlusses am California Institute of the Arts in Los Angeles entstand, mit ihren unterschiedlich engen Bohrlöchern wirklich ein Fingerzeig auf seine katholische Erziehung? Deren Credo der Künstler 1992 in einem Interview mit dem Satz bilanzierte: „Nichts wird ohne Mühe erlangt.“ Oder handelt es sich bei dem selbst gebastelten Holzkasten doch eher um eine kunstimmanente Abrechnung mit den superglatten Stahlkuben der dominanten Minimal Artists und Konzeptkünstler, denen Kelley hier gewissermaßen den Vogel zeigt.
Die Überzeugung, sich weder auf einen Stil noch auf ein Medium und schon gar nicht auf eine klare Künstleridentität festlegen zu wollen, führte Kelley gleich zu Beginn seiner Karriere zum Rollenspiel und zur Normüberschreitung des Karnevals und Grotesken. Zu seinen frühesten Arbeiten gehörten Performances wie „The Futurist Ballet“ (1973) oder „Confusion“ (1982/1983), in denen er jegliche kohärente Erzählung in der Kunst anzweifelte: Kelley hantierte auf der Bühne mit Skulpturen, die auf künstlerische Vorfahren wie Marcel Duchamp, Joseph Beuys oder den italienischen Futuristen Fortunato Depero verwiesen und zog mit seinen Gedankenmonologen das Publikum in eine soghafte Erzählung, die er dann demonstrativ selbst immer wieder abbrach und sabotierte.
Haben sich von diesen Auftritten bedauerlicherweise nur Berichte und Fotografien erhalten, so vermittelt in der aktuellen Ausstellung doch die früheste Filmarbeit des Künstlers einen guten Eindruck von seiner performativen Arbeitsweise: Im Video „The Banana Man“ (1983) bezog er sich auf eine marginale Figur aus „Captain Kangaroo“, einer Kinderfernsehserie, die ab 1955 ausgestrahlt wurde. Diesen „Banana Man“ hatte Kelley leider immer in der Sendung verpasst, aber andere Kinder hatten ihm von der Figur erzählt – und Jahrzehnte später verließ er sich dann einfach auf die Berichte über einen Mann, der aus seinen vielen Taschen lange Dinge wie Spielzeugeisenbahnen oder Hot-Dog-Ketten zog und dabei „Ooooh“-Geräusche machte. Basierend auf diesen knappen Informationen bastelte sich Kelley ein quietschgelbes Matrosenkostüm mit vielen Taschen und lieferte vor der Kamera ein 28-minütiges Feuerwerk an zweideutigen Anspielungen ab. Sexualität und Erinnerungsvermögen, zwei wichtige Themen bei Kelley, sind beim „Banana Man“ auf unnachahmliche Weise verwoben.