Chaïm Soutine Düsseldorf

Wunde Wesen

Die Bilder von Chaïm Soutine zeigen das Leben so zerbeult, wie es nun mal ist. Dem großen Außenseiter widmet das Düsseldorfer K20 nun eine Retrospektive

Von Alexandra Wach
14.11.2023
/ Erschienen in Magazin Nr. 218

Wenn einer den Bruch mit seiner Familie riskiert, aus der tiefsten Provinz in die Kunstmetropole Paris geht, um Maler zu werden, dann muss er es ernst meinen mit der Kunst. So einer war Chaïm Soutine. 1893 in einem Schtetl nahe Minsk als zehntes Kind eines jüdischen Flickschusters geboren, steckte er immer wieder Prügel ein, weil er malen wollte. Seine Brüder quälten ihn bei jedem Vergehen gegen das orthodoxe Bilderverbot, und sein Vater verlangte von ihm, dass er Rabbi werden solle. Nach einem Kunststudium in Vilnius wagte er mit zwanzig Jahren schließlich die Flucht nach vorn.

In Paris wohnte der Einzelgänger im Künstlerasyl „La Ruche“, dem „Bienenkorb“, in dem es von hungrigen Existenzen wimmelte. Er litt unter seiner Armut und stürzte sich dennoch mitten hinein ins avantgardistische Geschehen. Wirklich beeindruckt war er nicht von den Losungen der Umstürzler. Statt beim Kubismus oder der Abstraktion mitzulaufen, hielt er am Figürlichen fest und malte mit derselben Unmittelbarkeit die immer gleichen Motive. Und er besuchte den Louvre, wo er sich für Chardin, Courbet und Rembrandt begeisterte. Für eine Schublade taugte er damit nicht.

Gehört wurde er trotzdem. Etwa von seinem Freund, dem Maler Amedeo Modigliani. Dieser verführte ihn nicht nur zum Trinken, sondern porträtierte und empfahl ihn reichen Kunstliebhabern, darunter auch seinem Kunsthändler Leopold Zborowski. Der schickte ihn in den Süden Frankreichs, zur Kräftigung. In dem kleinen Pyrenäenort Céret entstanden Soutines umwerfende Landschaften. Seine gestisch-expressive Malweise ließ Häuser wie im Orkan wanken. Eine ganze Allee geriet ins Rutschen. Der schwindelerregende Wirbel der Pinselstriche verdrehte und verzerrte die Perspektive. Und dann die Farbe. Sie war für Soutine Selbstzweck und Offenbarung zugleich, floss in Strömen über die Leinwand, mitunter direkt aus der Tube. Türkis, Veronesegrün, Weiß – vor allem Rot: Zinnober, Karmesin, Purpur, Rubin, Blutrot, Inkarnat.

In „Gegen den Strom“, diesen Titel trägt die Soutine-Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (K20) in Düsseldorf, sind es diese Bilder, die man gleich am Anfang zu sehen bekommt. Sie machen sprachlos. Und auch Soutine ahnte wohl, als er erfolgreich zu werden begann, dass sie seinem Ruf schaden könnten. Er ging in Galerien und kaufte diese Céret-Landschaften, um sie zu zerstören. Als Zborowski 1922 von der Aversion Wind bekam, rettete er gerade noch rechtzeitig einen Stapel vor dem Feuer. Ein Glücksfall, denn Albert C. Barnes, ein Industrieller und Sammler aus Philadelphia, kaufte ihm ein Jahr später Hunderte Bilder ab, Derain, Modigliani, Utrillo und Soutine. Allein von ihm erwarb er 52 Werke, die zum Grundstein seines Ruhms wurden, darunter den berühmten „Pâtissier“ und auch einige der Céret-Motive.

Barnes’ Interesse erwies sich als ein veritabler Wendepunkt in Soutines Leben. Er stieg über Nacht zum Star der Pariser Kunstszene auf, nahm Französischkurse, kleidete sich in Maßanzüge, übernachtete in teuren Hotels und nahm selbstbewusste Posen an, wenn er fotografiert wurde. Einigen dieser Momentaufnahmen begegnet man in Lebensgröße in den Ausstellungsgängen. Man sollte sich von ihnen nicht täuschen lassen. Soutine blieb ein Getriebener, der sich in Ekstase malte und mit Pinseln gegen die Leinwand schmiss. Motivisch beharrte er stur auf damals überkommene Gattungen: Landschaften, Stillleben und Porträts. Und er konnte nur vor dem Motiv malen, brauchte seine physische Präsenz.

Das galt auch für die Porträts, die mitunter zu Torturen geraten konnten. Die Gesichter zeigte Soutine immer verbeult, mit schiefen Augen, wulstigen Lippen und unnatürlich großen Ohren. Hin und wieder porträtierte er bürgerliche Frauen in glutroten Kleidern – allein sind sie alle, eingeschlossen in einer kaum erkennbaren Umgebung. Am liebsten waren ihm aber Messdiener und Metzgerjungen, Kellner, Zimmermädchen und Hotelpagen in Uniformen. Menschen gerieten bei Soutine nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs zu grotesk deformierten, traumatisierten Zeitgenossen, denen die Farbe bedrohlich über den Körper kroch.

Und dann wären da noch die gehenkten Truthähne und gerupften Geflügel. Knochen und Eingeweide. Wenn Soutine einen geschlachteten Ochsen in der Art von Rembrandt malen wollte, ließ er den Kadaver so lange im Atelier hängen, bis das verwesende, täglich mit frischem Blut überschüttete Fleisch die Gesundheitspolizei auf den Plan rief. Der Sonderling blieb ein chronisch Gequälter. Seine Zerrissenheit springt einem aus jedem Bild entgegen. Man wird mit schönstem Schaudern beschenkt, mit blutig rohem Fleisch geschockt und wundert sich darüber, dass sich Museen und Markt, zumindest hierzulande, so lange mit seinem Werk schwergetan haben. Schon deshalb ist die Düsseldorfer Schau ein Ereignis.

Es ist bemerkenswert, dass Soutine, der zu Lebzeiten recht berühmt war und auch im 21. Jahrhundert in Städten wie Paris, London oder New York regelmäßig große Ausstellungen hatte, in Deutschland vergleichsweise wenig bekannt ist. Seine letzte Retrospektive in Münster liegt über vierzig Jahre zurück. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen gehört zu den wenigen Häusern, die einen Soutine besitzen. Der damalige Direktor Armin Zweite erwarb 1997 das „Stillleben mit Fasan“. Das titelgebende Geflügel hängt mitten im Bild, über einer Schüssel, die zum Ausweiden bereitsteht. Das Bild war auch der Anstoß, sich einmal genauer mit dem Maler zu beschäftigen, und damit Auslöser für die Ausstellung, die das K20 gemeinsam mit dem Louisiana Museum of Modern Art im dänischen Humlebæk und dem Kunstmuseum Bern realisiert hat.

Mit seiner in allen Sinnen vibrierenden Malerei und den Metaphern für Armut und Ausgrenzung, der Verwundbarkeit jeglicher Kreatur war Soutine ziemlich singulär in Paris. Kuratorin Susanne Meyer-Büser lenkt deshalb den Blick immer wieder auf den Immigranten, den heimatlosen Aufsteiger, der seine Aufmerksamkeit solidarisch Menschen von der Straße schenkte. Und sie weist auf seine Rezeption hin: In der Nachkriegszeit stieg Soutine zum „Maler für Maler“ auf, wurde verehrt von Francis Bacon und Willem de Kooning, der an seinen Bildern das „Leuchten, das aus dem Innern der Gemälde kam“ bewunderte. Georg Baselitz, Marlene Dumas oder Anish Kapoor sind es heute, die von seinem Vorbild zehren.

Soutine selbst wurde nur 50 Jahre alt. 1943 starb er an einem Magengeschwür. Zuvor musste er sich als Jude vor den Nazis verstecken und schaffte es deswegen nicht rechtzeitig in ein Pariser Krankenhaus. Jean Cocteau und Pablo Picasso gehörten zu den wenigen, die an seiner Beerdigung teilnahmen. Sie erkannten die Bedeutung dieses großen Außenseiters, der die Wertschätzung auf der höchsten Ebene des Kanons verdient und für das breite Publikum immer noch zu entdecken ist.

Service

Ausstellung

„Chaïm Soutine. Gegen den Strom“

K20, Düsseldorf,

bis 14. Januar 2024

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